Nach Halle: Live-Streams als tickende Zeitbomben

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Nach Halle: Live-Streams als tickende Zeitbomben

Kommentare zum Artikel: 8

Wer ein öffentliches Radio- oder Fernsehprogramm ausstrahlen möchte, braucht dafür eine Lizenz. Nicht nur, weil damit bestimmte Frequenzen belegt werden – das auch, zumindest war das früher relevant -, sondern vor allem, weil auf diese Weise sehr viele Menschen erreicht werden. Unmittelbar. Live. Damit ist eine enorme Verantwortung verbunden. Es gibt also nun wirklich sehr gute Gründe, wieso nicht jeder einen Radio- oder Fernsehsender starten und betreiben darf. Und wenn, dann gehen damit eine Menge Verpflichtungen einher.

Auf Twitch werden Spiele gestreame - aber auch Gewalttaten; Rechte: WDR/Schieb

Auf Twitch werden Spiele gestreamt – aber auch Gewalttaten

Unhaltbar: Jeder kann jederzeit alles streamen

Heute ist das anders. Heute kann jeder einen Live-Stream auf Facebook, Youtube, Instagram, Twitter oder Twitch starten – und nicht nur jeden Unsinn daherreden, sondern auch hetzen oder terroristische Taten live übertragen. Das war bei den Anschlägen in Christchurch so. Und das war auch in Halle so. Auch aus Deutschland werden also mittlerweile Live-Streams in die Welt gejagt, die Gewalt und Terror zeigen.

Das wirft doch die Frage auf, ob es richtig sein kann, dass einfach jeder – völlig unkontrolliert – einen solchen Live-Stream starten darf. Jeder. Egal wie verrückt, egal wie kompetent, egal wie erfahren – und auch egal, mit welchem Ziel.

Terroristen und Täter wie in Halle sind dankbar für diese Möglichkeiten. Sie können so ihre Untaten bekannt machen. Das Öffentlichmachen ihrer Tat – sogar live! – ist ein erhebliches Tatmotiv. Sie werden “berühmt”. Für immer mit der Tat verbunden. Das Netz vergisst nichts. Die Tätervideos sind nie wieder komplett aus dem Netz zu entfernen – bei aller Anstrengung, die unternommen werden mag.

Verhinderungsmechanismen können nicht wirksam greifen

Zwar hat es nach Christchurch geheißen, Facebook, Youtube und Co. wollten das Verbreiten von Kopien solcher Terrorvideos unterbinden. Schneller und effektiver. Es gab sogar einen “Christchurch Gipfel”. Danach wurde das Global Internet Forum to Counter eingerichtet, das die rasante Verbreitung solcher Gewaltvideos bei Facebook, Twitch und Co. ausbremsen soll. Aber ob das wirklich gelungen ist, darf bezweifelt werden.

Auch stellt sich die Frage, ob es besser ist, ob – wie in Halle geschehen – das Video eines Augenzeugen etwas in den Sozialen Medien verloren hat. Ich finde: Nein. Niemals sollten Amateure entscheiden dürfen, was öffentlich zu sehen ist.

Leider sind First-Person-Shooter und Actionspiele heute von realen Bildern nicht mehr zu unterscheiden. Selbst KI ist nicht in der Lage, haben uns Experten bei Facebook im Cosmotech-Podcast erklärt, bei einem Live-Stream zu unterscheiden zwischen Fiktion (Game) und Realität (Christchurch, Halle). Wenn dem so ist, sollte es eben gar nicht erlaubt sein, live zu streamen. Denn wie unverantwortlich ist es, dass jeder jederzeit alles streamen kann?

Es darf auch nicht jeder hinters Steuer und Auto fahren. Warum darf jeder streamen? Es darf nicht jeder unterrichten. Wieso darf jeder streamen? Wir sollten darüber diskutieren, ob die vermeintliche “Freiheit”, dass im Netz jeder jederzeit alles darf – zudem in der Regel anonym -, nicht doch ein erhebliches Problem ist.

Wenn ich Twitch wäre – ich würde mich schämen, dass über meinen Kanal solche Bilder verteilt werden. Und das nicht zum ersten Mal. Aber wer heute zu Twitch geht, findet keinerlei Hinweise, was eben erst Ungeheuerliches hier geschehen ist.

Anlässe wie die in Halle sind Grund genug, darüber zu diskutieren, welche Regeln es geben sollte. Im Augenblick haben wir keine. Das ist nicht gut.

 

 

Über den Autor

Jörg Schieb ist Internetexperte und Netzkenner der ARD. Im WDR arbeitet er trimedial: für WDR Fernsehen, WDR Hörfunk und WDR.de. In seiner Sendung "Angeklickt" in der Aktuellen Stunde berichtet er seit 20 Jahren jede Woche über Netzthemen – immer mit Leidenschaft und leicht verständlich.

8 Kommentare

  1. Ich finde den Gedankenansatz, das Streaming zu verbieten, völlig falsch. Überall in der Welt lachen sich Menschen mittlerweile über das Verbotsland Deutschland kaputt. Und wohin alle diese Verbote mittlerweile führen, sieht man doch mittlerweile in sämtlichen Entwicklungsbereichen in Deutschland. Alles, worauf man in Deutschland nicht direkt eine Antwort findet, wird verboten oder man muss dafür erst eine teure Prüfung bestehen, um Lizenzen zu erhalten. Zuletzt gesehen bei den eRollern. Die Probleme werden aber nie an ihren Wurzeln angepackt. Bleiben wir bei den eRollern. Dass mit Fahrrädern gleiche oder sogar je nach Geschwindigkeit größere Unfälle passieren können, wird in dieser Diskussion gar nicht erwähnt. Auch nicht, dass eRoller eigentlich eine recht tolle Sache sind, die viel Potenzial bergen. Oder der Vergleich hier in dem Kommentar mit: es dürfe nicht jeder Auto fahren. Und trotzdem passieren täglich zahlreiche Unfälle auf deutschen Straßen, in die lizensierte Autofahrer, die alle eine TEURE Prüfung bestanden haben, involviert sind. Verbote oder das Verlangen nach einer Prüfung bzw. Lizenz behebt doch nicht das Grundproblem. Man muss einfach wieder ein Bewusstsein bei den Menschen schaffen – besonders in der Generation Smartphone. Genau so sehe ich es auch beim Streaming. Es gibt beispielsweise richtig viele und gute Tutorials und Webinare – zum Teil kostenlos. Warum sollte man das Risiko eingehen, und diese aus dem Netz nehmen, nur weil ein Gesetz künftig eine Lizenz für das Bereitstellen oder Streamen solcher Inhalte fordert und es sich nicht jeder Hobby-Kreative leisten kann. Natürlich könnte man jetzt sagen. Es dürfe nicht jeder unterrichten. Ich muss aus eigener Erfahrung sagen, dass die meisten deutschen staatlichen Lehrbeamten, die ich hatte, nichts getaugt haben. Theoretiker, denen es egal war, was aus den Schülern wird. Da bevorzuge ich lieber jemanden, der in der Praxis erfolgreich ist und schon etwas geleistet hat. Dann spielt es für mich überhaupt keine Rolle, ob er befugt ist oder nicht, mich zu unterrichten. Was in Halle und Christchurch passiert ist, ist schrecklich. Wenn die Täter Aufmerksamkeit wollen, wird ein Streaming-Verbot sie niemals davon abhalten. Im schlimmsten Fall schicken sie Ihre Videoaufnahmen an Radio- oder Fernsehstationen. Da gibt es mit Sicherheit das ein oder andere Medium, das es kaum erwarten kann, exklusives Material der Sensation zu Liebe zu senden.

  2. Snoop Lion am

    Mit denselben Argumenten haben vor 500 Jahren Kleriker und Klöster gegen den Buchdruck argumentiert. Jeder konnte, so er die Technik beherrschte, drucken was er wollte. Das Monopol der Kloster und der Kirche war gebrochen und die Welt hat sich massiv dadurch geändert.

    • OFF_LEINER am

      “…und die Welt hat sich massiv dadurch geändert.”

      Aber leider nicht unbedingt zum Besseren…

    • Das ist 20019 heute kann jeder Streamen ich bin nicht dafür aber jeder soll selbst entscheiden was derjenige damit anstellt.

  3. Aus technischer Sicht ist öffentliches Streamen nicht zu verhindern. Jeder der Zugang zum Netz hat, kann alle Anwendungen anbieten und durchführen die mit Netzwerktechnik möglich sind.
    Doch halt Internetanbieter könnten “deep packet inspection” durchführen und versuchen direkt Inhalte an der Quelle zu filtern, am besten speichern dann könnte man Verfehlungen später noch strafrechtlich verfolgen. Doch wiederum halt mit anderen Netzwerktechniken wie VPN könnte man das wieder umgehen. Doch nochmals halt man könnte diese verbieten, am besten Verschlüsselung als ganzes.
    Ups, jetzt gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Diktaturen/Autokratien und liberalen Demokratien im Umgang mit dem Netz. Und war da nicht letztens ein Artikel “Verschlüsselung als Grundrecht”.

    Die im Artikel gestellte Forderung ist leicht gesagt aber kaum umsetzbar und andere gesellschaftliche Aspekte wurden dabei noch gar nicht gestreift.

    Die einzige Möglichkeit ist das öffentliche Streamen auf beliebten Plattformen zu erschweren. Das mag eine gewisse Hürde darstellen, welche nicht jeder mehr nimmt.

  4. Exakt! Bauen wir doch eine Entschleunigung für die Amateure ein, denn das täte uns allen sehr gut. 20 oder 30 Minuten sollten genug sein um das grausamste zu verhindern. Und Miezes Miauen und Kraulen ist auch 30 Minuten später noch genau so schön anzusehen. Ich befürchte, dass auch hier die Politik erneut nicht handeln wird und statt dessen weiterhin Konjuktive absondert wie “man müsste….”.

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