Tatort Freibad oder: Statistik für Unerschrockene

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Tatort Freibad oder: Statistik für Unerschrockene

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Wir Journalisten sind manchmal wie Pawlowsche Hunde. Sie kennen die Versuche des russischen Verhaltensforschers noch aus dem Biounterricht? Klassische Konditionierung? Bedingte und unbedingte Reize? Ein unbedingter Reiz (Futter) und ein bedingter Reiz (Glöckchenläuten) werden miteinander verknüpft. Zuerst fließt bei dem Hund nur dann Speichel, wenn ihm ein Futternapf vor die Nase gestellt wird. Weil aber dabei auch ein Glöckchen läutet, reicht nach einiger Zeit das Glöckchen aus, damit der Speichel fließt.

So ähnlich ist es im Moment bei vielen Medienschaffenden mit den Themen Freibäder und Migranten. Seit der überhitzten Diskussion über diverse Vorfälle in diversen Freibädern mit Jugendgruppen diverser Herkunft sind diese Themen so eng mit einander verknüpft, dass schon leichter Chlorgeruch heftige Reaktionen bei Betroffenen auslöst.

Drei kleine Anfragen

“Tatort Freibad: Über 1000 Straftaten in NRW”, lautete heute eine Agenturmeldung, die eine Art gedanklichen Speichelfluss verursacht. Woher kommt die Zahl plötzlich?

Die AfD-Fraktion im NRW-Landtag hat drei kleine Anfragen gestellt. “Die berüchtigten jungen Männer randalieren in den Freibädern NRWs – Baden wir nun die verfehlte Migrationspolitik aus?” steht über den Anfragen. Und drei Anfragen sind es, weil sie sich auf die Jahre 2014 (also vor der Flüchtlingskrise), auf 2018 und 2019 richten.

Die Antworten auf die Anfragen: In 2014 erfasste die Polizei 163 Freibad-Delikte, in 2018 waren es 1070 und in 2019 (bis Ende Juni) bislang 105. Zum allergrößten Teil handelt es sich übrigens um Diebstahl und zu kleineren Teilen um Sachbeschädigungen und Körperverletzungen.

Nicht vorbehaltlos valide

Das Problem ist: Die Zahlen aus 2014 und 2018 sind statistischer Schrott. Denn es gab in diesen Jahren noch kein einheitliches Erfassungssystem für den “Tatort Freibad”. Das Innenministerium drückt sich etwas vornehmer aus: Die Zahlen sind “statistisch nicht vorbehaltlos valide”.

Der Katalog zur Erfassung der Tatörtlichkeiten wurde nämlich erst zum dem 1. Januar 2019 um das “Freibad” erweitert. Man wird also erst Ende 2020 vergleichen können, wie sich die Zahlen in 2019 und 2020 entwickelt haben. Alles andere ist faktenbefreite Kaffeesatzleserei.

Die AfD wollte auch wissen, wie hoch der Anteil der Verdächtigen ist, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Interessanterweise liegt dieser Anteil sowohl im statistisch fragwürdigen 2018 als auch im ersten Halbjahr 2019 bei jeweils 32 Prozent. Was übrigens ziemlich genau dem Anteil von Nicht-Deutschen Verdächtigen in der gesamten Kriminalstatistik entspricht.

Udo, Manuela und Ömer

Besonders raffiniert ist die Frage der AfD nach den Vornamen der Verdächtigen – und zwar jenen Verdächtigen, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen! Klar, hier soll hintenrum ermittelt werden, wie viele Deutsche, die eigentlich irgendwie gar keine richtigen Deutschen sind, in die Kategorie der Freibadterroristen gehören. Ich ziehe meinen Hut vor den Mitarbeitern des Innenministeriums, die sich dieser Herausforderung gestellt haben. Für das Jahr 2018 listen sie über 200 Namen auf, darunter Udo, Horst Rudi und Manuela ebenso wie Ahmet, Abdul oder Ömer.

Leider ist die Fleißarbeit des Ministeriums statistisch wertlos. Denn wir wissen nicht, über wie viele Horst Rudis wir eigentlich reden. Oder ob Liselotte Ingrid oder Abdul Hamit womöglich Serientäter sind.

Überhaupt wissen wir sehr vieles nicht. Zum Beispiel, wie sich die Delikte auf die 332 Freibäder in NRW verteilen. Und was das Schlimmste ist: Wir haben keinen Schimmer von den kriminellen Abgründen in den Hallenbädern. Aber das Jahr ist ja noch nicht vorbei.

Über den Autor

Studium der Politikwissenschaft in Münster, dann eine Dekade als Reporter für Radio und Fernsehen in NRW unterwegs. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts zum Onliner mutiert. Und jetzt Landespolitik. Mediengrenzen sind eh nur was für Leute von gestern ;-)

4 Kommentare

  1. Nachdenklicher Bürger am

    So lange man die Warheit nicht offenlegt, bleibt auch die Kölner Sylvesternacht 2015 mit 1220 Übergriffen, laut Politik und Polizei eine Nacjt ohne besondere Vorkommnisse!

  2. moeschtijall am

    Wenn in den Berichterstattungen die Herkunft der Störer, Verursacher oder auch Täter genannt würde, würde es gar nicht erst zu solchen Anfragen kommen. Es wäre gleich öffentlich. Für die klassische Konditionierung würde der Grund fehlen! Die Einzigen die sich wirklich an solchen Veröffentlichungen stören würden wären wahrscheinlich die Journalisten selbst.

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