Tag 23: Der Gullydeckel

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Tag 23: Der Gullydeckel

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Die nächste Zeugin sagt aus. Die heute 30-jährige Frau erzählt, wie sie mit zehn Freunden und Bekannten die Loveparade 2010 besuchte. “Mit der Masse” sei man vom Duisburger Hauptbahnhof über die vorgegebene Wegstrecke zum Veranstaltungsgelände gelaufen, sagt sie. Schon an Eingangssperren, wo Besucher auf Flaschen und gefährliche Gegenstände kontrolliert wurden, sei es “sehr voll” gewesen.

Richtige Entscheidung: umdrehen

Mit ihren Freunden kam sie im zunehmenden Gedränge im Tunnel bis zum Anfang der Rampe, wo kurz darauf an jenem Nachmittag die tödliche Massenpanik ausbrach. Die Menge habe sich nur “wie in Zeitlupe” fortbewegt. Die Zeugin und ihre Begleiter machten hier schnell kehrt, weil es ihnen zu eng, zu bedrohlich wurde. “Demütig” sei sie im Rückblick angesichts dieser richtigen Entscheidung, sagt die Zeugin. Gegen den Strom der Besuchermassen schaffte es die Gruppe zurück durch den Tunnel – zu einem anderen Aufgang Richtung Loveparade-Gelände. Interessant dabei: Laut Zeugin war diese kleinere Aufgangs-Rampe auf dem Hinweg noch von Polizisten gesperrt gewesen.

“Stolperfalle erster Güte”

Ein Vorfall beschäftigt die Zeugin bis heute: Sie sei im Geschiebe der Menge mit dem Fuß in einem auf dem Boden liegenden Absperrgitter hängen geblieben. Dabei habe sie gesehen, wie unter dem Gitter ein Gullydeckel ins Gullyloch halb abgesackt war. Die Zeugin nennt dies “eine Stolperfalle erster Güte”. Verletzt wurde die junge Frau leicht – sie erlitt eine Rippenprellung und eine Quetschung des Brustkorbs.

Die Verteidiger kritisieren die Aussage der Zeugin. Von einer “gebrieften Zeugin” spricht ein Rechtsanwalt. Eine Verteidigerin moniert, die Aussage basiere an der Stelle mit dem Gullydeckel nicht auf eigenem Erleben, sondern darauf, was die Zeugin später in Internetvideos gesehen habe. So habe sie Erinnerungslücken gefüllt. Nebenklage-Vertreter verteidigen indes die Glaubwürdigkeit der “in sich ruhenden” Frau. Kein Verteidiger bestreitet, dass es den losen Gullydeckel gab (schließlich existieren Fotos davon). Aber man habe den Gully im dichten Gedränge doch gar nicht sehen können, heißt es.

Nachmittags ein weiterer Zeuge. Aber der Loveparade-Besucher weist große Erinnerungslücken auf. Er ist als Zeuge kaum brauchbar, gerät ins Schwitzen – und wird schnell entlassen. Der Rest des Prozesstags vergeht mit der Verlesung von Dokumenten. So wird die 50-seitige Brandschutzverordnung vorgelesen, die demnächst mit ihren Passagen zu Fluchtwegen und Panikprävention noch intensiv Thema werden dürfte.

Über den Autor

Jahrgang 1974. Geboren im westlichen Münsterland. Ich berichte seit 2002 über Politik und News aus Nordrhein-Westfalen. Bis 2007 für die taz, danach knapp fünf Jahre als Korrespondent der Nachrichtenagentur ddp/dapd. Seit 2012 arbeite ich für den WDR.

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