Tag 106: “Das sah aus, wie ein Bombenanschlag ohne Blut.”

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Tag 106: “Das sah aus, wie ein Bombenanschlag ohne Blut.”

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Für mich ist nach der Einstellung des Verfahrens gegen sieben Beschuldigte heute der erste Verhandlungstag in verkleinerter Besetzung. Für uns Presseleute hat die Teileinstellung eine praktisch-positive Auswirkung: Wir haben zwei Reihen mit Tischen und sogar Stromanschluss dazu bekommen. Ich muss das Laptop nicht mehr auf den Knien balancieren. Eine weitere Neuerung: Die Messegesellschaft hat auf Bitten des Gerichts andere Trinkbecher aufgestapelt. Statt Vollplastik-Müll zu erzeugen, zapfen wir nun unser Wasser in Becher, die laut Hersteller zu 100 Prozent aus nachwachsenden Rohstoffen bestehen.

Kloß im Hals

Als Zeuge ist heute ein weiterer Polizeibeamter geladen. Der Zugführer sollte damals eine Polizeikette auf der Rampe bilden. Ich dachte eigentlich, ich wäre mittlerweile gewappnet, nach all den Aussagen von Zeugen, die mitten im Gedränge waren. Aber ich bekomme wieder einen Kloß im Hals, als ich erlebe, wie dieser Mann, der im Laufe seines Berufslebens sicher schon einiges gesehen hat, um Fassung ringt, nach Worten sucht, ihm die Stimme zittert, als er erzählt. Davon, wie eine Kollegin, die er in die sich aufschaukelnde Menschenmenge geschickt hatte, einen Funkspruch abgesetzt habe: “‘Hilfe, Hilfe’. Das macht ein Polizeibeamter nicht. Ein Polizeibeamter ist darauf konditioniert, auch in schwierigen Situationen über Funk etwas zu sagen, mit dem die Kollegen was anfangen können.”

“Da unten läuft es nicht rund, da läuft es weiß Gott nicht rund!”

Da sei ihm klar geworden, dass etwas gewaltig schieflief, sagt der 50-Jährige. Und dann, als er mit seinen Leuten zusammen an die Stelle durchkam, wo zuvor das Gedränge entstanden war: “Das sah aus, wie ein Bombenanschlag ohne Blut. Da lagen überall Menschen rum, überall waren die Kollegen damit beschäftigt, Menschen zu versorgen, der Rettungsdienst war auch da, andere Loverparade-Besucher haben sich auch um Verletzte gekümmert.”

Neue Erkenntnisse?

So sehr mich der Bericht des Zeugen anfasst: Nach einer Weile frage ich mich, was der Polizist an neuen Erkenntnissen bezüglich der Schuld oder Unschuld der verbleibenden Angeklagten beisteuern kann. Höchstens indirekt, indem seine Vernehmung wieder einmal kein rühmliches Bild des Polizeieinsatzes zeichnet. Über mögliche Planungsfehler kann er aber wenig sagen. Eigentlich nur, was er von seiner Ortsbegehung am Tag vor der Loveparade berichtet: “Was ich noch genau weiß, dass der Eindruck, den ich von dem Ort hatte, kein guter war. Ich weiß noch, dass ich die Rampe Ost hochgeguckt habe und gedacht: Jo, wenn das mal so funktioniert, dass die Leute am Kopf der Rampe von sogenannten Pushern auf das Gelände geschoben und durch die Floats mitgesogen werden. Was wir im Vorfeld besprochen haben, war, dass wenn es überhaupt funktionieren würde, nur unter sehr großen Schwierigkeiten.”

Über den Autor

Geboren 1969 in Bremen, Mensch- und Journalistenwerdung in Rheinland und Ruhrgebiet und seit 2008 für den WDR als Reporterin in Düsseldorf, Duisburg und Umgebung unterwegs. Das Unglück bei der Loveparade habe ich von Anfang an immer wieder journalistisch begleitet, vom Folgetag an viel Zeit im Tunnel verbracht, Eindrücke gesammelt, Menschen befragt, berichtet. Auch über die politischen Folgen, wie die Abwahl des Oberbürgermeisters Sauerland und das juristische Hickhack im Vorfeld dieses Prozesses.

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