DIE afrikanische Literatur gibt es nicht. Vom afrikanischen Kontinent kommt eine Menge an Literaturen, die von unterschiedlichsten politischen, historischen, sozialen und sprachlichen Faktoren geprägt ist. Vergleiche sind trotzdem erlaubt, es gibt natürlich auch gemeinsame Themen. Und wenn man vergleicht, fällt auf: Nigeria ist ein Kreativzentrum der afrikanischen Literaturen; eine Vielzahl von spannenden Projekten mit nigerianischen Bezügen entstand in den letzten Jahren, und einiges davon fand auch den Weg auf die internationalen Märkte. „Nigerianische Bezüge“ deshalb, weil „nigerianische“ SchriftstellerInnen häufig in zwei Heimatgefilden zu Hause sind, meist vor allem auch in den USA. Eine Literatur also, die nicht zuletzt von der Migration geprägt ist zwischen “Süd” und “Nord”.
So wie zum Beispiel Chigozie Obioma, geboren 1986, der an der Universität von Nebraska in Lincoln Literatur und kreatives Schreiben lehrt – und der als eine Art Wunderkind der Weltliteratur gilt: Wie schon mit seinem ersten Roman „Der dunkle Fluss“ (erschienen 2015) war er auch mit Nr. 2 für den wichtigsten britischen Literaturpreis, den Booker Prize nominiert. In „Das Weinen der Vögel“ (Piper, Euro 24, übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner) erzählt er eine so klug konzipierte und komponierte wie mitreissende und zu Herzen gehende Liebesgeschichte, die einerseits zugleich auch von nigerianischer Zeitgeschichte gesättigt ist, wie sie andererseits zudem die Kultur und die Kosmologie des Volks der Igbo in der Struktur des Romans verankert. Klingt kompliziert? Ist es nicht, weil Chigozie Obioma über herausragende Fähigkeiten führt – und all das auf sehr smarte Weise in eine flüssige, konsistente Erzählung verpackt. Das ist alles in allem: schon ganz schön klasse.
In der Geschichte geht’s um einen Geflügelzüchter, der nichts unversucht lässt, seine Liebe zu einer Tochter aus besserem Hause für Gesellschaft und Familie satisfaktionsfähig zu machen – und dabei doch nur scheitern kann. Eine undenkbare Beziehung, wenn man so will. Es geht aber noch viel krasser, wie zum Beispiel in dem Roman „Wo wir stolpern und wo wir fallen“ von Abubakar Adam Ibrahim (Residenz Verlag, Euro 24, übersetzt von Susann Urban), der sich um eine, wenn man so will, extrem radikale Grundidee dreht und rankt: Eine muslimische Witwe, Mitte 50, wird vom Chef der örtlichen Gang überfallen und ausgeraubt, die beiden vergucken sich ineinander, für sie selbst am meisten überraschend; sie lassen sich dann auf eine Liebes- und vor allem: Lustbeziehung ein, die es in sich hat, aber sowas von! Auch hier werden Politik, Gesellschaft und Zeitgeschichte mit erzählt, rund um die (Familien-) Geschichten der beiden Hauptfiguren herum. Dieser Roman ist exzellent gedacht und gemacht – und auf eine raue Weise zärtlich erzählt, die es ebenfalls: in sich hat.
Interessant der Vergleich dieser beiden (Liebes-)Geschichten: Beide beeindrucken und hallen lange nach nach der Lektüre – sie tun dies aber auf ganz verschiedene Weise: Chigozie Obioma ist ein Stratege, sein Roman „Das Weinen der Vögel“ ist im besten Sinn geschliffen; aber er scheint schon sehr gezielt auch in dem Sinne verfasst worden zu sein – und mit Blick auf US- beziehungsweise auf den Weltmarkt. Abubakar Ibrahims Roman „Wo wir stolpern und wo wir fallen“ wirkt viel weniger zugerichtet, seine Kraft wirkt unmittelbarer, sie trifft direkt ins Herz, entfaltet dabei eine ungeheure Wucht, die einen schüttelt, eben auch länger nach der Lektüre. Jedenfalls: Eine atemberaubende Geschichte – und ein grandioser, toller Tabubruch, in vielerlei Hinsicht.
Und die Frauen? Auf unterschiedliche Weise starke Persönlichkeiten, die doch auch in den (patriarchalen) Strukturen verhaftet sind, sein müssen, wollen sie überleben. Darin, dabei und daneben finden sich durchaus Räume, in denen sie ihr eignes Ding durchziehen können, wie man so sagt. Die Kunst dabei ist nicht weniger als eine Quadratur des Kreises.
Aber natürlich geht es auch anders, zumindest ist es denkbar. Zum Beispiel in dem Roman „Wie ein Maultier, das der Sonne Eis bringt“ von Sarah Ladipo Manyika (Hanser Berlin, Euro 17, übersetzt von Monika Baark) – die Geschichte einer Frau, die es geschafft hat, sich von allem frei zu machen, dessen sie ledig sein wollte: Morayo da Silva, fast 75, ehemalige Diplomatengattin, ehemalige Unidozentin, stammt aus Nigeria, lebt in San Francisco, führt genau das Leben, das sie führen will, wie ein Schmetterling schwirrt sie durch die Stadt in ihren bunten Kleidern, mit ihrem alten Porsche. Das könnte ewig so gehen, in einer wundersamen Zeitschleife. Einziges Problem, einzige Grenze: Halt das leidige Alter. Dem sie allerdings erhobenen Hauptes zu trotzen weiß. Und überhaupt: Wenn schon altern, dann so.
Sarah Ladipo Manyika, geboren 1968, wuchs in Nigeria auf, lebt heute wie ihre Heldin in San Franzisko. Sie verfolgt Morayo da Silva durch die Gegenwart – und erzählt dabei ihre Vergangenheit, die auch wiederum die Zeitgeschichte Nigerias transportiert, unter anderem. Ein Roman mit einer zauberhaften „Heldin“, geschrieben von einer Schriftstellerin, die etwas gelingt, was die allerwenigsten vermögen: Eine leuchtende Geschichte mit Strahlkraft, die bei aller Leichtigkeit die Tiefe niemals verliert – lichte Literatur im allerbesten Sinne.