Beschädigt – und ein Sommerhit: „Auf Erden sind wir kurz grandios“, der erste „Roman“ von Ocean Vuong

https://blog.wdr.de/nollerliest/beschaedigt-und-ein-sommerhit-auf-erden-sind-wir-kurz-grandios-der-erste-roman-von-ocean-vuong/

Beschädigt – und ein Sommerhit: „Auf Erden sind wir kurz grandios“, der erste „Roman“ von Ocean Vuong

Kommentare zum Artikel: 0

Wie schafft man eigentlich dieses Lesepensum? Eine Frage, die Menschen, die sich beruflich mit Literatur beschäftigen, so häufig gestellt bekommen wie sie daran, na ja, verzweifeln. Fast verzweifeln, manchmal zumindest: Das Leben ist ein ruhiger Fluß, das Lesen ein steter Strom, der permanent zum Überlaufen neigt. Mein Trick: Zwei, drei Wochen raus aus allem – und ohne Ablenkung rein in die Bücher und Geschichten, die jetzt schon und demnächst angespült werden.

Mit dabei in diesem Jahr, im Örtchen Evigno in Ligurien, dort vor allem im wirklich bezaubernden Freibad gelesen: Der erste „Roman“ von Ocean Vuong, „Auf Erden sind wir kurz grandios“, der in diesem Sommer ziemlich diskutiert wird und sogar den Weg in die Bestsellerlisten fand.

„Roman“ in Anführungszeichen deshalb, weil der Autor, geboren 1988 seine eigene Lebensgeschichte thematisiert, eine Mischung aus Fiktion und Autobiographie, angereichert mit Szenen eines Essays. Das ist ein Trend in der internationalen Literatur – nicht von ungefähr erinnert Ocean Vuongs Schreiben an das des Franzosen Édouard Louis, zum Teil bis ins Detail. (Tipp bei ihm: “Wer hat meinen Vater umgebracht”, erschienen im Fischer Verlag)

Als Zweijähriger kam Vuong in die USA, zusammen mit seiner Mutter und der Großmutter – die Form dieses Buches ist die eines Briefes an die Mutter, den sie allerdings nie lesen wird, weil sie Analphabetin ist. Nähe und Distanz in einem also. Die Drei durften in die USA migrieren, weil Vuongs Großvater ein US-Amerikaner ist, vielleicht zumindest, auch diese Geschichte, eine von vielen dieses Buches, bedarf der Überprüfung.

Vuong beschreibt und reflektiert nur wenig verschleiert als ein Charakter namens Little Dog sein Leben als Migrant aus prekären Verhältnissen, zugleich auch die Geschichte seines Coming Outs, zuletzt außerdem noch sein Selbstverständnis als Dichter und Schriftsteller – aller Vergangenheit zum Trotz. Und trotz aller (körperlicher) Beschädigungen, die ihm dieses Leben zugefügt hat: Als Migrant, als Teil einer kriegstraumatisierten Familie, als Unterschichtler, als homosexueller Jugendlicher in der amerikanischen Provinz.

Ein harter und zarter „Roman“, bedrückend und bewegend, sprachlich auf geschickte Weise hochartifiziell gearbeitet, trotzdem auch ohne Diplom mit Gewinn lesbar. Unverkennbar jedenfalls, dass Ocean Vuong in erster Linie Dichter ist, in den USA wird er für seine Poesie als eines der interessantesten Talente gefeiert.

Evigno in seiner geordneten Beschaulichkeit ist ein merkwürdiger Ort, um so eine Geschichte zu lesen, dachte ich für einen Moment. Dann kam das „afrikanische“ Geschwisterpaar, das wohl im Ort untergebracht ist, ins Freibad, von allen beäugt, nicht unfreundlich, aber doch mit einer gewissen Distanz. Doch, passt schon, dachte ich – „nur kurz grandios“ ist überall …

(Hanser Verlag, übersetzt von Anne-Kristin Mittag, 22 Euro)

Einen Kommentar schicken

Die mit * gekennzeichneten Felder müssen ausgefüllt werden.

Top