Bisschen Theorie (2018, eine unvollständige und subjektive Auswahl)

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Bisschen Theorie (2018, eine unvollständige und subjektive Auswahl)

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Trolle sind ein Problem. Ständig. Nervensägen. Ein Phänomen des digitalen Zeitalters. Oder? Nicht nur – denn diese Trolle, wer auch immer sie sein mögen, kommen natürlich nicht von ungefähr. Genauer: Sie sind, wenn man so will, eine Weiterentwicklung dieser üblen, muffigen, nur manchmal auch: amüsanten Gestalten, die die nordische Sagenwelt beherrschen. Schlimme Kerle (mit nicht ganz so schlimmen Weibchen), wie der in Bonn lehrende, aus Österreich stammende Skandinavist und Mittelalter-Forscher Rudolf Simek in seiner unterhalstamen Studie “Trolle. Ihre Geschichte von der nordischen Mythologie bis zum Internet” (Böhlau Verlag, Euro 30) ausführt. Das und noch viel anderes Interessantes mehr – von einem, der wohl nur Eines besonders verabscheut: Die Popcorn-Trollkultur, die in Skandinavien für gelangweilte TouristInnen verkauft wird, da wird Herr Simek selbst plötzlich (fast) richtig böse.

Apropos merkwürdige Gestalten: Sehr spannend auch “Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem wilden Menschen” von P.J. Blumenthal (Franz Steiner Verlag, Euro 26,–). Jahrelang hat Blumenthal geforscht, recherchiert, ist auch gereist – in dem Band fasst er sein gesammeltes Wissen über so genannte “Wolfskinder” zusammen, und zwar mit globaler Perspektive. Kinder also, die mehr oder minder lang aus “der Zivilisation” verschwunden waren und möglicherweise von Tieren ernährt und aufgezogen wurden – so zumindest der weit verbreitete Mythos, der (insbesondere in Indien) immer wieder neue Nahrung erfährt. Tatsächlich, so P.J. Blumenthal, ist im Prinzip in keinem einzigen Fall belegbar, dass sich Tiere tatsächlich elterngleich um Menschenkinder gekümmert hätten. Spannend sind die (auch historisch recherchierten) Geschichten trotzdem allemal – und fast noch mehr die Art und Weise, wie die Menschen mit diesen Geschichten umgehen, auch das ein Thema in dem spektakulären Buch.

Großes Spektakel – war 2018 auch der Band “Das Integrations-Paradox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt” von Aladin El-Mafaalani. Will heißen: Ein fetter Hype kocht rund um dieses Buch und seine zentrale These – eben die Annahme, dass der große Streit um die Integration ein Zeichen dafür ist, dass sie schon weiter fortgeschritten ist, als man gemeinhin annimmt, weil die MigrantInnen mittlerweile mit am Tisch sitzen und ihr Stückchen vom Kuchen einfordern. Ein Gedanke, der so einfach ist, wie er abenteuerlich anmutet – in einer gesellschaftlichen Gemengelage, die mit allerlei Weltuntergangsstimmungen beim Thema Migration angefüttert wird. Und deshalb macht Aladin El-Mafaalani auch richtig gute Laune mit seinem Buch, das entsprechend abgefeiert wird, zurecht. Nebenbei: 2018, das scheint sowieso sein Jahr gewesen zu sein – der Soziologe, der im Ruhrgebiet aufwuchs, wurde nämlich auch noch zum Integrationsbeauftragten der NRW-Landesregierung benannt. Scheint, als hätte die Politik da mal den richtigen Typen für den richtigen Job gewonnen.

Von wegen Politik: Es gab ja wieder einen ganzen Haufen PolitikerInnen-Betrachtungen in Buchform in diesem vergehenden Jahr 2018, von Michelle Obama zum Beispiel, von Sigmar Gabriel, über Markus Söder und, und, und. Wirklich interessant fand ich persönlich vor allem das kleine Buch “Wer wir sein könnten. Warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht” von Robert Habeck. Der neue Co-Vorsitzende der Grünen neben Annalena Baerbock hatte ein ähnlich gutes Jahr wie Aladin El-Mafaalani, zumindest dürften ihm die Umfragen gut gefallen haben, die seit beider Amtsantritt einen wahren Höhenflug für die Grünen verzeichnen. Dass das nicht von ungefähr, sondern auf Basis einer strategischen Idee passiert, belegt sein Buch, in dem Habeck, der eigentlich ja Schriftsteller ist, darüber nachdenkt, wie vor allem mit sprachlichen Mitteln auf die Demokratie-Krise, die wir gerade erleben, reagiert werden könnte und sollte. Alles andere als Politiker-Sprech, und genau so präsentiert der Autor sich ja auch in der Öffentlichkeit, spannend.

Klein, aber fein. Und vor allem: Mit Wirkung. Das betrifft zuletzt noch den so schmalen wie treffenden Essay “Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt” (Reclam Verlag, Euro 6,–), den der Münsteraner Islamwissenschaftler Thomas Bauer Anfang des Jahres veröffentlicht hat. Bauer beobachtet, dass einerseits Medien- und Konsumwelten immer ausdifferenzierter werden – siehe das Joghurtregal im Supermarkt. Zugleich erleben wir eine immense Einschränkung von Vielfalt in fast allen anderen Lebenswelten; die Zahl der Arten schwindet zum Beispiel massiv, ebenso wie die Zahl der gesprochenen Sprachen sich reduziert. Unsere Moderne, so Bauers These, hat wohl eine Disposition zur Vernichtung von Vielfalt. Dahinter sieht er eine “Ambiguitätsintoleranz”, die unserer Zeit inne wohnt – wir können schlecht mit Mehrdeutigkeit und Unklarheit umgehen, wollen immer die eine, exakte, klare Lesart. Was aber per se in den meisten Fällen überhaupt nicht machbar ist, da (fast) immer alles mehrdeutig und interpretierbar ist. Was auch Sinn macht, insbesondere in der Kunst/Kultur und in der Religion – sonst folgt “eindeutiger” Fundamentalismus. Was bedeutet also der Verlust der Vielfalt, die Vereindeutigung der Welt für die Demokratie? Das ist so etwas wie die Leitfrage, der dieser informative Text sehr anschaulich und unterhaltsam nachgeht, ausgesprochen lesenswert, garniert mit dem einen oder anderen Aha-Effekt.

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