Lateinamerika verstehen – dazu sind zum Beispiel die Romane des peruanischen Nobelpreisträgers Mario Vargas Llosa ein probates Mittel. In seinem neuesten Bestseller “Harte Jahre” (Suhrkamp Verlag, übersetzt von Thomas Brovot, Euro 24,–) geht´s um die Zeitgeschichte Guatemalas – und die Frage, warum das Land ab Mitte des 20. Jahrhunderts jahrzehntelang von Bürgerkrieg, Militärdiktaturen, Hetzjagden auf “Linke” etc. geprägt war. Die Antwort des Romans, basierend auf zeitgeschichtlichen Fakten: Ein russisch-stämmiger US-Einwanderer, der als Bananenimporteur zum Multimillionär wurde, ist verantwortlich; zusammen mit seinem so amoralischen wie brillanten PR-Berater. Aus geschäftlichen Gründen suggerierten sie zunächst der US-Öffentlichkeit, somit dann auch der Politik, dass Guatemala “kommunistisch” zu werden drohe, und zwar wieder besseres Wissen; die CIA organisierte und finanzierte einen blutigen Machtwechsel, der Rest ist – Geschichte. Die schildert Mario Vargas Llosa natürlich nicht lehrbuchhaft, sondern als Politkrimi mit Zügen eines Abenteuerromans, mit vielen Wendungen und spannenden Protagonisten, das Ganze elegant dramatisiert und geschrieben. Interessant ist das alles nicht nur mit Blick auf Guatemala und seine Geschichte und mit dem auf die Wirkweisen zwischen Ökonomie und Politik, sondern sehr zeitgemäß auch in der ausgesprochen heutigen Frage, welche Zusammenhänge es in einer Demokratie zwischen PR und Politik geben kann – und was für gravierende, für viele Menschen tödliche Folgen daraus möglicherweise erwachsen. Besonders interessant ist in dem ganzen Kontext übrigens die Figur einer Frau mit dem Spitznamen “Miss Guatemala”, deren im wahrsten Sinn zwielichtige Lebensgeschichte mit den politischen Ereignissen eng verwoben ist – die Idee zum Roman beruht unter anderem auf einer Begegnung mit ihrem “realen Vorbild”, die Mario Vargas Llosa im Nachwort schildert.
Der Roman ist auch schon als Hörbuch zu haben (der Hörverlag, Euro 24,–); sehr gelungen Klassiker-gemäß gesprochen von Johannes Steck, so hört sich das an:
Kürzlich wurde die neue litprom-“Weltempfänger”-Bestenliste für den Sommer 2020 bekannt gegeben. Ganz oben findet sich “Schläge. Ein Porträt der Autorin als junge Ehefrau” (Culturbooks Verlag, übersetzt von Karen Gerwig, Euro 22,–), der zweite Roman der indischen, jetzt in London lebenden Schriftstellerin Meena Kandasamy, die bislang vor allem als Dichterin bekannt war. Basierend auf eigenen Erfahrungen, schildert Meena Kandasamy die Geschichte einer Ehe, die als Liebesgeschichte begann, sich aber immer mehr zu einer Gewaltbeziehung und zu einer der Zwangsentmündigung der Frau durch den Mann entwickelt, bis sie sich irgendwann, irgendwie befreien und ein anderes Leben, ihr Leben beginnen kann. Meena Kandasamy schildert, wie gesagt, persönliche Erfahrungen – die sie allerdings so dramatisiert und anlegt, dass das Prototypische daran sichtbar und auch spürbar wird. Die Geschichte einer Entmündigung, die zugleich auch die einer Selbst-Entmündigung ist, hier wie da schaut Meena Kandasamy sehr genau hin. Das Lese-“Erlebnis” dieses Buches ist auf eine merkwürdige Weise zwiespältig: Was die junge Ehefrau erlebt und später als (immer noch junge) Schriftstellerin erzählt und verarbeitet, ist natürlich erschütternd. Zugleich ist Meena Kandasamys Geschichte aber auch faszinierend zu lesen, weil sie über ein großartiges literarisches Talent verfügt, und die Art wie sie ihr Erlebtes erzählt, sprachlich wie auch kompositorisch, ist beeindruckend. Indem sie aus dem Vollen ihres jetzt schon immensen erzählerischen Fundus schöpft, kann sie ihre Erfahrung verarbeiten, so scheint es, und so wird aus der autobiographischen Erzählung zugleich ein – ausgesprochen kunstvoller – Roman. Meena Kandasamy ist jetzt Mitte Dreißig, von ihr wird man sicher noch viel hören und lesen, bis sie irgendwann möglicherweise als Altmeisterin gehandelt werden wird, deren Kunst dazu beigetragen hat, die Welt (nicht nur zwischen Männern und Frauen) besser zu verstehen. Das Zeug dazu hat sie jedenfalls – ein Ausnahmetalent.
Eine kleine Anekdote noch dazu: 2018 war Meena Kandasamy bei den litprom-Literaturtagen in Frankfurt zu Gast. Sie trug Gedichte vor – und zwar so, dass sofort ausnahmslos alle gebannt waren im großen Saal des Frankfurter Literaturhauses. Zoe Beck und Jan Karsten vom Culturbooks Verlag waren auch da; ich schätze mal, dass an diesem Spätnachmittag auch die Idee entstand, “Schläge” ins Deutsche zu übersetzen. Es blitzte und funkelte regelrecht – Talent und Performance. Ich habe spontan das Smartphone in Richtung Bühne gehalten, deshalb ist die Aufnahme technisch nicht super toll, aber es kommt, denke ich, schon ein wenig rüber, wie sie damals den Saal gerockt hat. Für den deutschen Text sorgte Ingrid El Sigai: