So viele spannende Bücherthemen – wir haben es nicht geschafft, vor dem Jahresende mal einen Blick auf interessante Bildgeschichten zu werfen. Deshalb hier noch die drei Graphic Novels, die mir – neben “Berlin” von Jason Lutes – in letzter Zeit besondere Freude gemacht haben.
Die “Heilige Stadt” Maschhad ist selbst für iranische Verhältnisse besonders religiös und repressiv. Anfang der 2000er Jahre tötete ein Handwerker und Familienvater – und Kriegsveteran – dort mindestens 16 Prostituierte; der Mann fühlte sich ermächtigt, vermeintliche Gottesgesetze dort umzusetzen, wo die Behörden nicht tätig wurden. In seinen Augen – und in denen von Teilen der Öffentlichkeit, so dass es Proteste gegen sein Todesurteil hab, das wiederum aus ganz eigenen Gründen gefällt wurde, kaum aber wegen den Frauenmorden, die er begangen hatte. Eine ganz spezielle Serienmörder-Geschichte also, deren Hintergründe der im Exil lebende Systemkritiker Mana Neyestani, geboren 1973, in seinem Comic “Die Spinne von Maschhad” (Edition Moderne, Euro 22, übersetzt von Christof Schuler) mit SEHR viel Schatten scharf schraffiert, sozial, psychologisch, juristisch, politisch. Ohne, dass einmal irgendein Zeigefinger erhoben würde, entsteht so eine radikale Abrechnung mit einer Gesellschaftsform, die sich in ihrer Repressivität, insbesondere gegenüber Frauen, letztlich selbst entbößt. Grandios.
Apropos: Als Leïla Slimani, geboren 1981, französische Star-Schriftstellerin mit marokkanischen Wurzeln, auf Lesereise in Marokko war, der alten Heimat also, ist sie mit vielen Frauen ins Gespräch gekommen, persönlich und teils auch “intime” Themen betreffend. Was bedeutet Sexualität für Frauen in muslimisch geprägten Gesellschaften? Leïla Slimani war so beeindruckt davon, was die Frauen ihr anvertrauten, dass sie einen Essayband zu dem Thema schrieb, zu dem dann noch eine Comic-Version entstand, die jetzt auch ins Deutsche übersetzt wurde: “Hand aufs Herz”, gezeichnet von Laetitia Coryn (avant, Euro 25, übersetzt von Kerstin Behre): Ein Blick hinter die Kulissen, wenn man so will, der, klar, viel Zwang, unterdrückte Gefühle, Aussichtslosigkeit zeigt, aber auch Aufbegehren, Freiheit, Selbstbestimmtheit, und zwar um jeden Preis. Beeindruckend.
Was ganz anderes, trotzdem sehr spannend: Alberto Breccia, der von 1919 bis 1993 lebte, geboren in Uruguy, aufgewachsen in Argentinien, ist einer der großen Klassiker des Geschichtenerzählens mit Hilfe von Bildern. Mitte der 1970er Jahre widmete er sich einem andereren Klassiker, dem amerikanischen Horror- und Phantasyautor H.P. Lovecraft – dessen unbestimmtes Grauen man möglicherweise leichter eben in Bildern irgendwie einfangen kann, als mit beschreibenden Worten. Das Ergebnis: Drastische, surreale, dystopische Bildwelten, die heute, in Zeiten von “Game of Thrones” und allen möglichen Weltuntergangsphantasien, auf eine Weise erstaunlich aktuell anmuten, zeitlos aktuell, gewissermaßen (“Lovecraft”, avant Verlag, Euro 29, übersetzt von André Höchemer). Große Kunst des Dunklen, Verlorenen, Unsagbaren.