“Eine kleine exotische Sensation” – Interview mit dem Schweizer Schriftsteller Sunil Mann

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“Eine kleine exotische Sensation” – Interview mit dem Schweizer Schriftsteller Sunil Mann

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Sunil Mann, geboren 1972, ist einer der bekanntesten Kriminalschriftsteller der Schweiz. Nach sieben Bänden um seinen – ebenfalls indischstämmigen – Privatdetektiv Vijay Kumar macht er sich mit dem Roman “Der Schwur” (Grafit Verlag, Euro 13,–) samt frischem Team jetzt auf zu neuen Ufern. Die Geschichte bietet nicht nur sehr gute Unterhaltung, man darf sie auch als gesellschaftspolitisches Statement verstehen. Ein Gespräch über den Roman, über Corona, über Migration, übers Aufwachsen im Berner Oberland – und über die Frau, der es zu verdanken ist, dass es diesen Roman und den Schweizer Schriftsteller Sunil Mann überhaupt gibt.

Zunächst mal das „Aktuelle“: Du hast Dir den Corona-Virus eingefangen. Wie geht’s Dir Stand jetzt – und wie ist es Dir damit ergangen?

Mittlerweile, nach rund zehn Tagen, sind alle Symptome abgeklungen, also Reizhusten, Schnupfen und Gliederschmerzen sind weg. Fieber hatte ich glücklicherweise nur kurz. Allerdings bin ich immer noch erschöpft. Der Verlauf der Krankheit war nicht schlimm, aber relativ hartnäckig und entsprechend anstrengend.

Was bedeutet die Zwangspause, die wir jetzt alle einlegen müssen, für Dich persönlich, auch wirtschaftlich?

Sie bedeutet in erster Linie, dass alle Lesungen bis Ende April abgesagt bzw. verschoben wurden. Letzteres ist ein Glücksfall. Wenn allerdings noch weitere Veranstaltungen und vor allem die rund fünfundzwanzig Schullesungen im Mai abgesagt werden, dann wird’s finanziell schon kritisch. Wieviel Entschädigung wir als Selbstständige in der Schweiz bekommen, ist noch nicht klar. Andererseits steht mir mit einem Mal sehr viel Zeit zum Schreiben zur Verfügung. Jetzt, da ich wieder gesund bin, bringe ich auch die Energie dafür auf. Einen Corona-Roman wird es allerdings von mir nicht geben.

Kannst Du die Zeit nutzen, um kreativ zu arbeiten – oder ist das eine Illusion?

Doch, seit ein paar Tagen funktioniert das wieder. Glücklicherweise habe ich ein angefangenes Manuskript auf meinem Laptop, da kann ich mich richtig reinknien, das macht auch Spass. Während der Arbeit daran verdränge ich allerdings systematisch, was in der Welt gerade abgeht, und versuche auch, den Internetbrowser nicht zu öffnen. Wenn ich dann nach ein paar Stunden aus dem Text auftauche, fühle ich mich trotz der geistigen Anstrengung irgendwie erholt. Und auch bereit, mich wieder mit der Realität auseinanderzusetzen.

Nach sieben Romanen mit Vijay Kumar präsentierst Du in „Der Schwur“ ein neues Ermittlerteam, warum das?

Ich habe zehn intensive Jahre mit Vijay Kumar verbracht, und nach sieben Romanen gingen wir uns gegenseitig auf die Nerven. Ich mag ihn immer noch, irgendwie, aber ich glaube, eine Beziehungspause tut uns beiden gut. Möglicherweise ist es sogar eine permanente Trennung, das wird die Zeit zeigen. Hinzu kommt, dass mich die Ich-Perspektive in diesen Romanen enorm eingeschränkt hat. Natürlich bin ich da selber schuld, vor zehn Jahren hielt ich das aber für eine grandiose Idee. Doch schon beim zweiten Buch fühlte ich mich massiv eingeengt, ich konnte immer nur das zeigen, was der Privatdetektiv sieht. Alles, was ausserhalb seines Blickfeldes geschieht, muss ihm jemand zutragen. Erzähltechnisch war das zeitweise enorm knifflig, damit es nicht plump rüberkam. Auch hatte ich schon seit einigen Jahren die Geschichte von Faith im Kopf, und die passte überhaupt nicht zu Vijays sarkastischem Ton. Ich wusste, dass ich sie aus verschiedenen Perspektiven erzählen wollte. Schon aus diesem Grund brauchte ich ein neues Ermittlerpaar.

Wer sind die beiden?

Marisa Greco ist eine ehemalige Flugbegleiterin, die nach dem Tod ihres Mannes den Job aufgegeben hat, um für ihren achtjährigen Sohn da zu sein. Seither schlägt sie sich mit Nebenjobs durch. Eine impulsive, energische Frau, die sich notfalls wehren kann, aber auch eine weiche Seite hat und nicht auf den Mund gefallen ist. Bashir Berisha ist ein albanischer Türsteher, der nebenbei eine erfolglose Detektei betreibt. Eher wortkarg, aber dank seines Jobs ein guter Menschenkenner. Er kommt aus einem Elternhaus, in dem Gewalt an der Tagesordnung war, und neigt selbst zu Gewaltausbrüchen, etwas, wogegen er seit Jahren verzweifelt ankämpft. Marisa und Bashir lernen sich unter widrigen Umständen kennen. Nachdem aber alle Missverständnisse aus dem Weg geräumt sind, gründen sie gemeinsam die >Agentur für unliebsame Angelegenheiten<. Sie kümmern sich um Dinge, die keiner gern macht oder für die vielen Leuten die Zeit fehlt. Demente Omas besuchen, zum Beispiel, mit ausgedienten Liebhabern Schluss machen oder auf ungezogene Gören aufpassen. Doch als sie für die Nigerianerin Joy einen rosafarbenen Koffer abholen sollen, wird die Lage ernst.

Die Ermittlungen führen ins Rotlichtmilieu – und zu nigerianisch-stämmigen Sexarbeiterinnen. Wie kamst Du auf dieses Thema?

Meine Recherche hat gezeigt, dass sozusagen alle Mädchen, die in Afrika angeworben und mit falschen Versprechen nach Europa gelockt werden, auf dem Strich landen. Die Zuhälterinnen, >Madames< genannt, stellen ihnen Jobs als Frisörinnen oder Kinderbetreuerinnen in Aussicht und übernehmen die Reisekosten. Das sind horrende Summen für die Mädchen, meist zwischen vierzig- und sechzigtausend Euro. Das Geld müssen sie erst abarbeiten, bevor sie frei sind. Oft werden sie dann selbst zu Madames oder kehren als relativ reiche Frauen nach Afrika zurück, wo sie natürlich über die Herkunft ihrer Einkünfte lügen und dadurch weitere junge Mädchen zum Aufbruch nach Europa motivieren. Falls sie nicht vorher in der Drogensucht landen. Dieser Kreislauf der Ausbeutung hat mich fasziniert und auch entsetzt, ausserdem passte er perfekt zu Faiths Geschichte.

Auf einer zweiten Ebene schilderst Du die „Reise“ eines nigerianischen Mädchens nach Europa. Wie realistisch ist dieser Strang?

Die Geschichte trägt sich so oder so ähnlich immer wieder zu, die Mädchen erzählen in Interviews fast alle dasselbe. Erfinden musste ich dafür nicht viel, ausser den Protagonisten natürlich. Ich wollte diesen Menschen unbedingt gerecht werden, deswegen habe ich so intensiv recherchiert wie noch nie zuvor. Mein Ziel war es, Faiths Reise so realitätsnah wie möglich zu erzählen. Artikel in Magazinen und Dokumentarfilme allein haben da nicht gereicht, ich habe mir auch Handyfilmchen von Betroffenen angesehen, um ein Gefühl für die Stimmung unterwegs zu bekommen. Glücklicherweise war ich schon in Kamerun, das ja gleich neben Nigeria liegt, und konnte mir so ungefähr vorstellen, wie es da riecht und aussieht. Den grössten Teil der Reise habe ich dann aber mit Google Maps erforscht, in Kombination mit Fotos und Videos bekam ich so ein ziemlich klares Bild von den örtlichen Begebenheiten.

Selbst für einen hartgesottenen Krimileser ist das, was Du da schilderst, erschütternd, finde ich. Wie ging es Dir mit der Recherche?

Die Recherche hat mich zutiefst aufgewühlt, zeitweise kamen mir beim Schreiben die Tränen und in den Monaten, während denen ich am Roman gearbeitet habe, habe ich oft schlecht geschlafen. Für mich war das aber auch Antrieb, die Geschichte genauso zu erzählen wie sie sich zugetragen haben könnte, und keine Abstriche zu machen, gerade bei den brutalen Szenen. Denn Brutalität erleben die Menschen auf dieser Route immer wieder. Hier irgendetwas zu zensurieren, hätte bedeutet, diese Schicksale nicht ernst zu nehmen.

Migration in vielen Facetten auf der einen, Rechtpopulisten auf der anderen Seite, inwiefern darf man Deinen Roman auch als gesellschaftskritische Intervention lesen?

Ausgangspunkt dieses Romans war ein Tweet, den ein rechtspopulistischer Politiker vor Jahren abgesetzt hat. Ein Bild, auf dem ertrinkende Menschen auf ein überfülltes Rettungsboot zu schwimmen. Darunter stand: »Die Fachkräfte kommen!«
Ich fand diesen Tweet zynisch und menschenverachtend, hatte aber keine Lust auf Populistenbashing, weil das meiner Meinung nach nichts bringt. Doch das Bild liess mich nicht mehr los. >Der Schwur< ist eine Antwort auf diesen Tweet, ein Plädoyer für Empathie. Denn man bildet sich hierzulande sehr schnell eine Meinung, gerne auch eine bequeme, am liebsten vom Sofa aus. Doch die Realität ist nun mal in den meisten Fällen komplexer als das, was uns Rechtspopulisten als Lösung anbieten. Deshalb wollte ich auch den dritten Erzählstrang, in dem eine rechte Politikerin um ihre Karriere kämpft, von innen heraus erzählen, aus dem Zentrum der Macht sozusagen. Um sichtbar zu machen, mit welchen Mitteln von dort aus politische Ziele verfolgt werden. Von dem her: Ja, der Roman darf sehr gerne als gesellschaftskritische Intervention gelesen werden.

Du bist selbst ein Schweizer mit indischen Wurzeln in der Familie. Wie sind Deine Erfahrungen mit den aktuellen Debatten um die Migration?

Unabhängig von meiner Herkunft ermüdet mich das reflexartige Gekeife der Rechten. Ich bin der Meinung, dass es höchste Zeit ist, konstruktive und nachhaltige Lösungen zu erarbeiten, wie mit Migranten umgegangen werden soll. Selbst wenn diese unpopulär sind. In der Schweiz, aber auch in der EU. Wenn sich jedes europäische Land im Sinne des Solidaritätsgedankens verpflichten würde, eine bestimmte Anzahl Flüchtlinge aufzunehmen, sollte das Problem in den Griff zu bekommen sein. Dass man Länder wie Italien und Griechenland in dieser Situation einfach allein lässt, ist mir völlig unverständlich.

Deiner Mutter haben wir es zu danken, dass wir heute Schweizer Kriminalroman von Sunil Mann lesen können. Wie kam es denn dazu?

Meine Mutter wurde in Indien von einem Schweizer Arzt als Krankenschwester rekrutiert, es gab schon damals Fachkräftemangel in gewissen Berufszweigen. Mit einer Freundin reiste sie dann erst nach Frankfurt, wo sie Deutsch gelernt hat, dann weiter ins Berner Oberland. Sie war damals bereits mit meinem Vater verheiratet und reiste in all ihren Ferien nach Indien, wie das bei Migranten üblich ist. Nach einem dieser Urlaube war sie schwanger und entschied sich, in der Schweiz zu bleiben. Da mein Vater früh verstarb, wuchs ich bei Pflegeeltern auf, die aber ganz in der Nähe wohnten. Die Frei-Tage meiner Mutter verbrachte ich mit ihr, den Rest bei der Familie. So bekam ich von beiden Kulturen viel mit, von der indischen und der schweizerischen.

In Deiner Kindheit und Jugend warst Du der einzige „Ausländer“ in Eurem Dorf. Welche Erfahrungen hast Du mit Rassismus gemacht?

Die Frage wird mir oft gestellt, und ich habe bemerkt, dass die Antwort manche Leute enttäuscht. Denn sie lautet: Gar keine. Es gab damals sozusagen keine Ausländer im Berner Oberland und entsprechend auch keinen Rassismus. Im Gegenteil, nach meiner Erfahrung war man neugierig auf fremde Kulturen. Meine Mutter lief jahrelang im Sari herum und kochte leidenschaftlich gern indisch, das war im Dorf eine kleine exotische Sensation. Mich fanden sie als kleinen Jungen vor allem süss und fürchteten wohl vorausschauend um ihre Töchter. Wäre aber nicht nötig gewesen.

Und wie sieht es heute aus, in Deiner Gegenwart?

In der Schweiz tendiert man dazu, Dinge nicht direkt anzusprechen (außer in Kommentarspalten von Onlinezeitungen), sondern lästert lieber hinter jemandes Rücken. Entsprechend werde ich eigentlich nie mit rassistischen Bemerkungen konfrontiert. Aber es gibt ihn schon, den subtilen Rassismus. Bei Grenzkontrollen, zum Beispiel, da komme ich regelmässig dran, Leute, die auch in Quartierstrassen nicht zurückgrüssen oder sogar demonstrativ wegschauen, oder in gewissen Läden, wo mich die Bedienung «übersieht», bis ich mich bemerkbar mache. Aber ich spreche Mundart und scheue mich nicht, mich zu wehren.

Man fragt sich natürlich: Wie gezielt und wie intensiv fließen eigene Erfahrungen in Deine Romane mit ein?

Bei den Vijay-Kumar-Romanen wurde ich das oft gefragt. Mea culpa. Die Figur war sehr nahe an meiner eigenen Biografie gebaut, wohnte im selben Quartier wie ich und verkehrte in denselben Bars und Klubs. Dennoch war nur sehr wenig autobiografisch. Erfahrungen habe ich – wenn überhaupt – stets verklausuliert einfliessen lassen, das halte ich bis heute so.

Last not least: Wie geht’s weiter mit Marisa Greco und Bashir Berisha, was dürfen wir erwarten?

Es gibt einige Fragen, die ich im ersten Band offengelassen habe. Was genau mit Marisas Mann geschehen ist, zum Beispiel, oder woher Bashirs Narbe stammt, die quer über sein Gesicht verläuft. Diesen Fragen möchte ich nachgehen. Natürlich wird es auch einen Fall geben, dazu kann ich aber noch nichts Konkretes verraten. Nur soviel: Ich lese mich gerade durch einen Stapel Sachbücher zum Thema IS-Rückkehrer und wie junge Menschen radikalisiert werden. Ein faszinierendes Thema. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Marisa und Bashir mit einem von ihnen zu tun kriegen.

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