Neu aus Argentinien

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Neu aus Argentinien

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Argentinien ist im Moment ein Thema auf dem deutschen Buchmarkt, immer wieder kommen spannende Neuentdeckungen, auch von DebütantInnen, zugleich legen schon etablierte AutorInnen regelmäßig nach. Bemerkenswert dabei: Die große Themen- und Formenvielfalt. Davon zeugen auch vier ganz und gar verschiedene Romane, die gerade erschienen sind.

Ein Beispiel: Hernán Ronsino, geboren 1975, der, wie gerade bekannt wurde, mit dem Anna Seghers-Preis 2020 ausgezeichnet wird. In seiner Novelle “Cameron” erzählt er von einem Mann, der wegen Dingen, die sich in einer dunklen Vergangenheit ereignet haben, einen bestimmten Bereich einer namenlosen Stadt nicht verlassen darf, er trägt eine Fußfessel. Als Ronsino die Grenze überschreitet, kehren die Dämomen aus der Vergangenheit wieder – Dämonen, die er, der ehemalige Folterknecht, einst selbst zum “Leben” erweckte. Ein Blick auf die Banalität des Bösen made in Argentinia – und darauf, wie die Spuren aus der Zeitgeschichte sich in die Gegenwart ziehen, auch wenn sie nicht unbedingt immer und überall direkt sichtbar sind. So lange zumindest, bis die Grenzen erreicht sind, die die Wunden aufbrechen lassen. Zugleich erzählt Hernán Ronsino auch eine Gewalt-Geschichte Argentiniens, deren Wurzeln viel weiter zurückreichen als in die Zeit der Militärdiktatur in den 1970er und 1980er Jahren. (Bilger Verlag, übersetzt von Luis Ruby, Euro 19,—)

Ziemlich spektakulär ist der Debütroman “Wie die Schweine” von Agustina Bazterrica, geboren 1974: Ein Virus hat in einer nicht allzu weit entfernten Zukunft dafür gesorgt, dass die Menschen keine Tiere mehr essen können. Weil sie auf Fleisch nicht verzichten wollten und weil eine lukrative Industrie davon lebt – wird eben umgedacht: Was spricht eigentlich dagegen, Menschenfleisch zu verzehren, was spricht also gegen Kannibalismus? Eigentlich nicht viel, so die Entscheidung der Gesellschaft, die Agustina Bazterrica beschreibt – dann zumindest, wenn bestimmte ethische Standards das Ganze absichern. Und natürlich – wenn nicht jedermensch gefressen werden kann, sondern speziell gezüchtete Humanoide niederen Bewusstseines, die man dann nur “Stücke” nennt, um unschöne Assoziationen zu vermeiden. In ihrem Roman dekliniert Bazterrica dieses Thema, diese Gesellschaft dann in vielen Facetten durch – das reicht von Eindrücken aus den Produktionsstätten der Fleischindustrie bis hin zu Menschenjagden, bei denen verkrachte Existenzen ihre Schulden loswerden können – wenn sie denn überleben. “Wie die Schweine” ist eine im wahrsten Sinn des Wortes bissige und bitterböse Satire, die unserer Massentierhaltungs- und Fleischindustriegesellschaft den Zerrspiegel vorhält. (Suhrkamp Nova, übersetzt von Matthias Strobel, Euro 15,95)

In “Auf der anderen Seite des Flusses” von Pedro Mairal, geboren 1970, verschlägt es einen Schriftsteller genau dorthin, auf die andere Seite des Rio de la Plata, nach Uruguay. Der Ich-Erzähler möchte Honorare, die er erwartet, von einem Konto in Montevideo abheben und dann in die Heimat schmuggeln, weil er so viel mehr Gegenwert erhält als im von der Wirtschaftskrise gebeutelten Argentinien. Wenn alles gut geht, wird er länger davon leben können samt seiner kleinen Familie und viel Zeit ohne Existenzstress zum Schreiben haben. Was nicht gut geht, so viel kann man verraten, ist das Treffen mit einer jungen Frau aus Montevideo, die er mal bei einem Literaturfestival kennen gelernt hat, und die er “nebenbei” schnell verführen möchte. Statt das Ego mit einer kleinen Affäre gestärkt zu haben, muss er sich letztlich damit auseinandersetzen, dass in seinem Leben kein Stein mehr auf dem anderen geblieben ist, im Gegenteil: Es ist zu einer Ruine von Leben geworden. “Auf der anderen Seite des Flusses” ist ein locker und leicht erzählter Roman, der offensichtlich das Ziel hat mit dem (eigenen) Machismo abzurechnen. Was gelingt, allerdings nur halb, wenn man so will: Fast ebenso amüsant zu lesen wie die Dekonstruktion, die Pedro Mairal versucht, sind die Passagen, die (wohl unfreiwillig) belegen, dass es nicht so leicht ist, den Macho-Strukturen mal eben zu entkommen … (Mare Verlag, übersetzt von Carola S. Fischer, Euro 20,–)

Nicolás Giacabone, dessen Debütroman “Das geschwärzte Notizbuch” jetzt auch auf Deutsch erschienen ist, kennt man schon als Drehbuchautor; er hat die Bücher für solche Hochkaräter wie “Birdman” oder auch “Biutiful” verfasst. Im Roman erzählt er die Geschichte eines jungen Drehbuchautors, der bei einem berühmten Regisseur einen Stoff vorstellen will – dabei von diesem allerdings gekidnappt und in den Keller verbracht wird, wo er sieben Jahre lang für den Regisseur anschaffen muss, ein “Hausautor” also im wahrsten Sinn des Wortes. “Das geschwärzte Notizbuch” ist ein Protokoll dieser Zeit, zugleich aber auch die Reflexion erzählerischer Strukturen; ein gewitzter Roman über das Verhältnis von Autor und Regisseur, überhaupt auch über die Bedeutung von Drehbuchautoren – und zugleich natürlich auch eine Abrechnung mit dem Haifischbecken Filmbusiness. Zulgeich ist dieser Roman auch in der Form so etwas wie eine Untersuchung, was es überhaupt bedeuten kann zu schreiben – die Geschichte wird tagebuchartig erzählt, in Schnipseln, Notizen und Sequenzen, sie hat keine geschlossene Handlung, zumindest keine offensichtliche, spielt zugleich aber mit den Grundsätzen des geschlossenen Erzählens, wie sie etwa vielfach im Film erwartet werden. Ein hoch experimentelles Buch also – Pflichtlektüre vor allem für die Leser, die sich für (große) Filme interessieren. Für die aber dann auch: wirklich dicke! (Heyne Encore, übersetzt von Christian Sönnichsen, Euro 20,–)

Demnächst an dieser Stelle dann noch Näheres zu dem Roman “Väterland” von Martín Caparrós. Weitere mehr oder minder aktuelle Titel aus Argentinien, inbesondere von Frauen, finden sich auf meinem Blog zum Beispiel HIER (Claudia Pineiro) und HIER (Lucía Puenzo) und HIER (Carla Maliandi) und HIER (Nacha Vollenweider).

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