Unbedingt lesenswert, ein Roman, der das Zeug zu einem Genreroman des Jahres hat: Ganz vorne auf Rang 1 steht nun schon zum zweiten Mal der Südkoreaner Young-ha Kim mit seinem abgefahrenen Alzheimer-Serienkiller-Noir “Bekenntnisse eines Serienmörders”. Mehr dazu demnächst an dieser Stelle, leider musste ich den für heute geplanten Asien-Krimi-Schwerpunkt verschieben, weil sich das Erscheinen von “50”, dem neuen Buch des Japaners Hideo Yokoyama, verzögert, der Roman wird Ende Mai kommen. Außerdem wird dann “Rachegeist” von Cai Jun aus China, der es in diesem Monat auf Platz 5 geschafft hat, auch noch etwas detaillierter Thema sein.
Neu mit dabei, erstmal auf Rang 8, ist der Düsseldorfer Schriftsteller Horst Eckert mit seinem aktuellen Roman “Im Namen der Lüge” (Heyne, Euro 12,90) – ein so aktueller wie brisanter Politthriller, der mitten in die deutsche Gegenwart zielt. Im Zentrum stehen Kripokommissar Vincent Che Veih, Sohn einer ehemaligen RAF-Terroristin, der gegen Widerstände einen Mord im Reichsbürgermilieu ermittelt – und Melia Khalid, “heimliche” Tochter eines Bundestagsabgeordneten und einer Afrikanerin, die für den Geheimdienst linksradikale Milieus überwachen soll, dann aber erkennen muss, dass von dieser Seite aktuell weniger drängende Gefahren drohen als von der anderen, und zwar insbesondere auch innerhalb des Verfassungsschutzes. Stichwort: Hufeisentheorie. Stark, wie Horst Eckert Abgründe und tote Winkel der politischen Realität mit den Mitteln der Fiktion ausleuchtet. Und die Story ist tricky konstruiert, sehr ideenreich, was die Milieus und die Handlungsorte angeht – mit vielen Anklängen auch an die politische Gegenwart, vom NSU-Skandal über Ex-Verfassungsschutzchef Maaßen bis hin zum Lübcke-Mord. Ein packender Roman, der das auch deshalb ist, weil man ihn als politisches Statement mit literarischen Mitteln verstehen kann. Es ist übrigens interessant zu beobachten, wie Horst Eckert, gewissermaßen ein alter Recke im Bereich des deutschen Genreliteratur, mit der Zeit in seinen Romanen immer kritischer und immer politischer wurde; seine Entwicklung spiegelt und begleitet die der Verhältnisse, in denen wir leben, in der Form von Polizeiromanen. Die Ereignisse, die er gekonnt fiktionalisiert, schienen damals, als er reüssierte, im Prinzip undenkbar – heute sind sie Zeitgeschichte, und man kann nur staunen, wie wenig vernehmbar darüber debattiert und geschimpft wird im Gegensatz etwa zu irgendwelchen Corona-Maßnahmen; um so wichtiger also, dass es so wache Mahner wie ihn mit seinen Romanen gibt, die dafür sorgen, dass das eigentlich Unvorstellbare nicht in Vergessenheit gerät.
Von 0 auf Platz 2 der aktuellen Krimibestenliste ist “Late Show” gesprungen, der neue Roman von Michael Connely (Campa, Euro 19,90, übersetzt von Sepp Leeb). Eine #metoo-Bullenoper, wenn man so will: Renée Ballard ist zur Nachtschicht der Polizei von L.A. versetzt worden, also eben zur Late Show, weil sie einen Vorgesetzten wegen sexueller Belästigung verklagt hat, und zwar erfolglos, weil ihr ehemaliger Partner sie bei der Beweisaufnahme wider Erwarten im Stich ließ. Mit beiden bekommt die nun Stigmatisierte es wieder zu tun, auf wendungsreiche und überraschende Weise, so viel kann man verraten, bei den beiden Fällen, die sie in “Late Show” ermittelt: In dem einen geht es um einen Transvestiten, der halbtot geprügelt und gefoltert wurde – im anderen um einen vermeintlichen Amoklauf in einem Club, hinter dem allerdings, so Ballards Vermutung, mit der sie allein auf weiter Front gegen alle Widerstände operiert, ein misslungenes Drogengeschäft unter korrupter Polizei-Beteiligung stecken könnte. Der Rest ist eine extrem dichte und packende, vorwiegend nächtliche Geschichte, ein Polizeiroman reinsten Wassers mit einer klasse konzipierten Hauptfigur – und Heldin. Michael Connelly ist einer der Großen der US-Genreliteratur, bekannt für seine Harry Bosch-Reihe, die mittlerweile auch als Streaming-Serie weltweit erfolgreich ist. Connelly ist einer, der in der Anlage seiner Storys mitunter etwas schematisch agiert, das fällt auch beim Neustart mit Renée Ballard auf – gereicht der Geschichte aber eher zum Vorteil, weil das Geschehen im Schema eine immense Dichte und Dynamik entfaltet, und zwar nicht über “Privates” oder “Atmosphärisches”, sondern über die konzentriert im Zentrum stehende Ermittlungsarbeit, die in diesem Roman der Dreh- und Angelpunkt von allem ist.
Stark vertreten sind auf dieser Krimibestenliste für den Mai übrigens Romane von Frauen aus den Vereinigten Staaten: Auf Rang 3 liegt “Family Business” von Lisa Sandlin, auf 4 “Altlasten” von Altmeisterin Sara Paretsky und auf 7 der Debütroman “Miracle Creek” von Angie Kim – die Drei werden ebenfalls demnächst an dieser Stelle noch ausführlicher Thema sein.
Einstweilen noch schnell ein Blick nach Uruguay, auf einen Kriminalroman, der es (noch?) nicht auf die Liste geschafft hat: “Falsche Ursula” von Mercedes Rosende (Unionsverlag, Euro 18, übersetzt von Peter Kultzen). Vor anderthalb Jahren war Mercedes Rosende mit “Krokodilstränen” auf der Krimibestenliste platziert, 2019 wurde sie für den Roman mit dem Liberaturpreis ausgezeichnet. Bis dahin war “Krimi aus Uruguay” ein eher unbekanntes Terrain – mit den genannten Erfolgen ist es ein wenig erschlossen, so dass der Unionsverlag es eben gewagt hat, noch einen Roman von Mercedes Rosende auf dem deutschsprachigen Markt zu platzieren. “Falsche Ursula” ist chronologisch eigentlich vor “Krokodilstränen” angesiedelt, der Roman ist also sozusagen Nachfolger und Vorgänger zugleich, man kann ihn aber auch dann mit Gewinn lesen, wenn man den schon vorhandenen zweiten Teil der Geschichte bereits kennt. Ein Geschäftsmann wird entführt, seine Frau soll zahlen, sie hat sich allerdings getrennt, er kennt ihre neue Handynummer nicht auswendig, die Entführer bedienen sich im Telefonbuch, so landen sie eben bei der “falschen” Ursula Lopez, die im Zentrum der Story steht, noch deutlicher als im zweiten/ersten Teil – und die in vielerlei Hinsicht ein Kaliber für sich ist. Ursula ist eine übergewichtige, schlecht gelaunte, fiese Misanthropin, der das Leben allerdings auch übel mitgespielt hat, sie macht aus dem Entführungsfall ihre ganz eigene Geschichte, und die beteiligten männlichen Humanoiden bekommen dabei übelst ihr Fett weg. Sympathisch ist Ursula keineswegs, trotzdem die Identifikationsfigur dieses Romans, wie Mercedes Rosende diese Konstellation in aller Vielschichtigkeit umzusetzen gelingt, ist bemerkenswert und beeindruckend. Und auf eine sehr verquere Weise lustig. Abgesehen davon: Spannender Blick nach Montevideo. Gesellschaftskritisch ohne Zeigefinger. Und sowieso: Ausgesprochen gute Unterhaltung.