Politkrimis aus Tschechien und Frankreich

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Politkrimis aus Tschechien und Frankreich

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Politkrimi aus Osteuropa, genauer: der tschechischen Republik, das hat Seltenheitswert. Aber der Roman “Die Residentur” von Iva Procházková ist nicht nur insofern bemerkenswert, sondern natürlich wegen seiner Geschichte, die ausgesprochen vielschichtig vor allem davon erzählt, wie die politische Interessen Russlands mit Hilfe aller nur denkbaren Mittel inklusive Mord und Totschlag durchgesetzt werden, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Ein “fetter” Politthriller also, opulent und komplex, der die politischen Verhältnisse in Osteuropa auf mindestens drei Ebenen spiegelt: Zum einen geht es um einen kritischen Blogger, der von Unbekannten erschossen wird, die Polizei ermittelt. Zum zweiten spielt, gewissermaßen auf höherer Ebene, ein fiktiver Staat namens Kasmenien eine Rolle; eine ehemalige Sowjetrepublik, die im Zuge der russischen Expansionspolitik wieder einverleibt werden soll; es tobt ein blutiger Konflikt. Auf der Zwischenebene erzählt Iva Procházková von den Verstrickungen zwischen der tschechischem Politik, der Oligarchen-Ökonomie und dem russischen Geheimdienst. Hinzu kommt noch, wenn man so will, eine extra-Ebene, auf der Iva Procházková, die bislang vor allem als Kinder- und Jugendbuchautorin bekannt ist, von ein paar jungen Leuten erzählt, allesamt “Kinder” von Exil-Kasmeniern in Tschechien, die kurz vor dem Abi beschließen, in die “alte Heimat der Eltern” zu gehen und dort für den Erhalt der Unabhängigkeit zu kämpfen. Iva Procházková, geboren 1953, hat in den 1980er und 1990er Jahren aus politischen Gründen lange auch in Deutschland und Österreich gelebt – ihr Roman “Die Residentur” ist eine Entdeckung, und zwar mit Sogwirkung. (Braumüller, übersetzt von Mirko Kraetsch, Euro 24,–)

Dominique Manott
i, geboren 1942, ist die Grande Dame der europäischen Genreliteratur, Abteilung Politkrimi. Mindestens ein Dutzend Romane hat die promovierte Historikerin und ehemalige Lehrerin veröffentlicht, dabei ist sie eine Spätberufene, sie hat nämlich erst im fortgesetzten Alter angefangen zu schreiben, weil sie enttäuscht von ihrer politischen Arbeit, etwa für die Rechte “Illegaler”, diese fortan literarisch fortführen wollte. In ihrem neuesten ins Deutsche übersetzten Roman “Marseille.73” geht´s eben ins Jahr 1973 und in die Metropole Marseille: Ein psychisch kranker Mann mit algerischen Wurzeln hat einen Busfahrer erstochen, Unruhen brechen los, und es gibt eine Mordserie an (jungen) “Arabern”. Die Behörden sind großteils korrupt und an wirklicher Aufklärung nicht interessiert, nur ein kleines Team ermittelt möglichst unbestechlich in einer explosiven Gemengelage, das sind die Helden dieser Geschichte. Dominique Manotti weiß leider allzu genau, wer “die Guten” und wer “die Bösen” sind, das zeigt sich in vielen ihrer Romane, mal mehr, mal weniger deutlich, und das ist mitunter schon eine etwas arge Simplifizierung, da wird das Narrativ der politischen bzw. auch der historischen Agenda untergeordnet, und das kann (bei aller Sympathie) auch mal ganz schön enervieren. Andererseits ist es auch so, dass dieses Narrativ, das sie in “Marseille.73” entwickelt, bei aller Reduktion von Komplexität (oder gerade deswegen) die Inhalte auch eisern trägt. Und die sind spektakulär: Zum einen im genauen, detailierten Blick auf den strukturellen Rassismus in französischen Behörden, speziell bei der Polizei; zum anderen aber auch mit der Untersuchung der Zusammenhänge zum Algerienkrieg, den Folgen der Kolonialzeit überhaupt und deren Wirkungen im Prinzip bis heute. Und in der Hinsicht ist “Marseille.73” denn auch alles andere als simplifizierend, im Gegenteil … (Ariadne, übersetzt von Iris Konopik, Euro 23,–)

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