Mai 2020: Die Amazon-Prime-Serie “Little Fires Everywhere” ist im Moment ein großes Thema allerorten. Und sie ist gut, soweit ich nach der Sicht der ersten drei oder vier (von insgesamt acht) Teilen abschätzen kann; auch deshalb, weil die MacherInnen sich offensichtlich ziemlich exakt an die – brillante – Dramaturgie des Originals gehalten haben. Das Original – ist der Roman “Kleine Feuer überall” von Celeste Ng, den man genauso unumwunden empfehlen kann wie den Vorgänger “Was ich euch nicht erzählte”. Also, die Serie kann man durchaus gucken, meine Empfehlung wäre trotzdem: lieber lesen. Warum? Die Bilder im Kopf machen (mir persönlich zumindest) doch noch etwas mehr Spaß als die (ein bisschen clean, das wäre eine kleine Kritik) fürs Amazon-Streaming produzierten. Oder aber: Zuerst lesen, dann mal gucken …
Celeste Ng: Kleine Feuer überall (Besprechung aus dem Mai 2018)
Wer´s lieber ruhiger mag, genauer gesagt: VIEL ruhiger – der sollte sich auf keinen Fall den tollen neuen Roman von Celeste Ng entgehen lassen, ihren zweiten: „Kleine Feuer überall“. In Shaker Heights, einem komplett durchregulierten Braveleutevorort von Cleveland, brennt das Haus der Richardsons; Izzy, jüngste Tochter von vier Kindern, hat es angezündet, ist dann abgehauen, wohl auf Nimmerwiedersehen. Was ist passiert? Wie konnte es dazu kommen? Das sind die Fragen, der diese Geschichte nachspürt – ebenso wie der, was die Künsterlin Mia Warren samt ihrer Tochter Pearl mit dem allen zu tun haben könnte. Die beiden sind Nomaden, ziehen seit Jahren von Stadt zu Stadt, wollten in Shaker Heights endlich mal heimisch werden, lebten zur Untermiete in einer Wohnung der Richardsons ein paar Straßen weiter, zogen aber wieder von dannen, und zwar unmittelbar vor dem Brand… – Hier die durch formatierten Vorstadtspießer, dort die unangepasst Entwurzelten, dann die Entwicklungen zwischen ihnen – klar, eine klassische Konstellation, Celeste Ng erfindet das Rad nicht neu mit ihrer Dramaturgie. Wie sie dieselbe umsetzt, das ist allerdings ganz großartig: Sehr genau und sorgsam konturierte Charaktere, zwischen denen sich wie selbstverständlich ganz unerwartete Dynamiken ergeben – und die Brandbeschleuniger, die Geheimnisse also, die letztlich hinter allem verborgen sind, die haben es wirklich in sich. „Kleine Feuer überall“ ist ein Familienroman mit Untiefen, deren Strömungen unberechenbar sind. Und nebenbei: Gewürzt mit einem besten Schulstreiche, von denen ich je gehört habe, zum Kringeln. Izzy war dafür verantwortlich, klar. Izzy – sie ist sowieso die Beste. (dtv, Euro 11,90, übersetzt von Brigitte Jakobeit)
Psychogramm einer zerrissenen Familie: Der feine, fesselnde und berührende Debütroman „Was ich euch nicht erzählte“ von Celeste Ng. (Besprechung aus dem Mai 2016)
Middlewood, Ohio, ein Städtchen mit 3000 Einwohnern, das Jahr 1977. Vater, Mutter, Tochter, Sohn, Tochter, nettes Haus, geordnete Verhältnisse – die Lees sind trotzdem nur beinahe eine ganz normale Familie, denn sie sind die einzigen Asiaten vor Ort. Sie sind, wie die Leute so sagen, „die Chinesen“. Wobei das erstens nur die halbe Wahrheit und zweitens grundlegend falsch ist: Nur Vater James hat asiatische Wurzeln, seine Eltern kamen aus China, James ist ein Einwanderer der zweiten Generation, in den USA geboren und aufgewachsen. Genau genommen sind die Lees Amerikaner durch und durch, die Kinder sehen halt ein bisschen asiatisch aus, deshalb sind sie für die restlichen Middlewooder eben „die Chinesen“.
Die Geschichte fängt damit an, dass Tochter Lydia eines Nachts nicht nach Hause kommt und auch nicht am Morgen. Die anderen ahnen Schlimmes, wir Leser wurden von der Autorin schon vorab informiert, und nach ein paar Tagen erzählter Zeit haben auch die Lees Gewissheit: Die 16jährige ist tot, ertrunken, sie wurde aus dem See mitten in der Stadt gefischt. Jetzt könnte ein Thriller anfangen, zumal es sogar eine Art Bösewicht in der unmittelbaren Nachbarschaft gibt. Aber Celeste Ng interessiert sich mit ihrer Geschichte weniger für das Wie, denn für das Warum: Was ist bloß geschehen mit Lydia? Wie konnte es dazu kommen, dass sie starb, ja sterben musste? Und welche Rolle spielt dabei ihre Herkunft?
Celeste Ng erzählt von den Tagen und Wochen nach Lydias Tod, sie kommt den Familienmitgliedern wechselnd sehr nahe, zugleich unternimmt sie Exkursionen in die Geschichte der Familie, taucht tief ein in die verschiedenen Gefühlswelten. Eine „heile“, kontrollierte Familie – in die sich offenbar irgendwann ein Riss geschlichen hat, ein Knacks unter der Oberfläche, der letztlich Lydia das Leben gekostet hat, obwohl alle nur das Beste wollten. Und ja, das Ganze hat mit den Wurzeln von James zu tun, auch – und mit der Tatsache, dass so eine „gemischtkulturelle“ Familie in den 1970er Jahren in ländlichen Gegenden (nicht nur) der USA eigentlich unvorstellbar war.
Es ist nicht klar, inwiefern „Was ich euch nicht erzählte“ autobiographisch inspiriert ist, zumindest scheint es Anleihen zu geben, darauf deuten ein paar kleine Anmerkungen am Schluss des Buches hin. Tatsache ist: Celeste Ng erzählt in ihrem Debütoman eine feine, fesselnde und berührende Geschichte mit literarisch adäquaten Mitteln: elegant, reflektiert, mit sehr gutem dramaturgischem Gespür und auf´s Wesentliche konzentriert. (dtv, Euro 10,90, übersetzt von Brigitte Jakobeit)