Mein Tag beginnt etwas turbulent. Wegen des Streiks scheinen die Straßen heute noch etwas voller zu sein als sonst. Und mein Navi leitet mich gefühlt zielsicher in jeden Stau, den es auf dem Weg zum Gerichtssaal in Düsseldorf gibt. Ich komme 15 Minuten zu spät. Etwas verschwitzt und außer Atem frage ich den Justizbeamten vor dem Personenscanner, ob ich noch meine Pressekarte bekomme. “Ne”, lautet seine erste Reaktion. Wer zu spät kommt, verliert seinen Presseplatz, so sind die Regeln. “Aber ist ja kein Problem. Ist nicht voll oben”, sagt der Beamte mit beruhigendem Blick und drückt mir eine Zuschauer-Zugangskarte in die Hand. Ich gehe nach oben, öffne leise die Türen zum Gerichtssaal und setze mich zu den wenigen Anwesenden.
Nebenkläger aus China
Der Rechtsmediziner ist gerade dabei weitere Obduktionsergebnisse vorzustellen. Darunter auch die Untersuchung einer damals 38-jährigen Frau aus China, die bei der Loveparade-Katstrophe ums Leben kam. Im Gerichtssaal sitzt auch ihr Ehemann – er ist Nebenkläger. Ein Mann mit glatt rasiertem Kopf und sympathischen Gesichtszügen. Das fiel mir auf, als er andere Hinterbliebene unten im Foyer des Gebäudes begrüßt hatte. Eine Verbeugung, eine herzliche Umarmung, ein freundliches Lächeln. Neben ihm im Gerichtssaal sitzt sein Übersetzter. Der Nebenkläger hält sich immer wieder ein Ohr zu, um ihm besser folgen zu können, während der Gerichtsmediziner langsam alle Details der Untersuchung verliest. In diesem Augenblick denke ich an die Tausende von Kilometern, die dieser Mann aus China gereist ist, um mehr über die Umstände zu erfahren. Nur schwer vorstellbar, was gerade in ihm vorgeht.
Protokolle des Untersuchungsausschusses liegen vor
Nach den Obduktionsergebnissen wird der Rechtsmediziner aus dem Zeugenstand entlassen. Damit ist quasi ein Kapitel geschlossen – er war der letzte Rechtsmediziner, der im Prozess vernommen wurde. Um ehrlich zu sein bin ich froh. Keine genauen Details mehr über die schweren Verletzungen der Opfer oder Nachfragen der Anwälte zu ihrem Todeskampf. Ich habe das Gefühl, ich bin nicht der Einzige im Saal, dem es so geht.
Mehr oder weniger beiläufig berichtet dann der Vorsitzende Richter Plein über ein wichtiges Beweisstück im Prozess. “Die Ausschussprotokolle sind eingegangen”, sagt er und meint damit die Protokolle des NRW-Untersuchungsausschusses zur Kölner Silvesternacht. Darin wurden auch Probleme beim Polizeieinsatz bei der Loveparade aufgelistet. Damit sind die Unterlagen seit heute Teil der Verhandlung und dürften uns auch in Zukunft noch häufiger beschäftigen. Mittagspause.
Es wird Still im Gerichtssaal
Der Prozesstag ist schon fast zu Ende. Der Nebenkläger aus China mit dem glatt rasierten Kopf und den sympathischen Gesichtszügen schaut immer noch ruhig und konzentriert auf die große Leinwand im Gerichtssaal. Es werden gerade Aufnahmen der Videokamera 12 gezeigt. “24.07.2010 14:00:00” steht am oberen Bildrand. Man sieht unter anderem das Gelände der Loveparade und die Rampe, an der es im Video gleich zur Massenpanik kommen soll. Die Aufnahme wird schneller abgespielt, um etwas Zeit zu sparen – eine Katastrophe im Zeitraffer sozusagen. Das Video hat keinen Ton. Es ist ganz still im Saal. Die Bilder zeigen, wie die Menschenmasse vor und auf der Rampe immer größer wird. Oben auf dem Gelände tanzen die Menschen zur Musik der Partywagen, die gerade ihre Kreise ziehen. Die Szenerie könnte kaum gegensätzlicher sein.
Ich frage mich, ob der Mann mit dem glatt rasierten Kopf und den sympathischen Gesichtszügen gerade auf den Bildern nach ihr sucht. Irgendwo da unten musste sie gewesen sein – seine Ehefrau.