Es ist nicht leicht, die Rolle der Polizei bei der Loveparade-Katastrophe zu verstehen. Wir haben bereits einige hochrangige Beamte als Zeugen beim Prozess gehört, aber seit zwei Tagen sagt hier endlich jemand aus, der das Geschehen unmittelbar erlebt und beeinflusst hat. Vor dem Hintergrund, dass sich der Prozess bald jährt, ist das bemerkenswert. Der Abschnittsführer des Tunnel- und Rampenbereichs hat sich heute der Befragung durch die Anwälte gestellt.
Die Anklage als Chance
Ein Jahr lang haben wir von verschiedenen Seiten im Prozess gehört, dass die Polizeiketten Schuld oder Mitschuld am Unglück seien und die Polizei daher auf die Anklagebank gehöre. Nach der Aussage dieses Zeugen hätte ich mir gewünscht, dass die Polizei offiziell mit angeklagt gewesen wäre. Dann hätten die Beamten hier mit ihren Verteidigern gesessen und der Prozess hätte von Anfang an ihre Sicht der Dinge eingeschlossen. Denn im Grunde geht es – wie ich finde – in diesem Prozess um die Aufklärung des Geschehens und weniger um eine Verurteilung. Diese Einschätzung teilen viele Prozessbeteiligte, mit denen ich mich unterhalten habe. Wahrscheinlich ist der Prozess aus diesem Grund so unpopulär und ich, abgesehen von einer Dokumentarfilmerin, wieder einmal die einzige Journalistin auf dem Presserang. Schade eigentlich. Denn die letzten fünf Verhandlungstage haben mit den Aussagen des Abschnittsführers und Crowd Managers immens zum Verständnis der Aktionen im Tunnel- und Rampenbereich beigetragen.
Das Puzzle ergibt ein Bild
Der Leitsatz “keine Stagnation im Tunnel” bekommt eine andere Bedeutung, wenn man ihn aus der Perspektive des Polizeibeamten betrachtet, der heute ausgesagt hat. Er erklärt, es habe bereits eine bedrohliche Stagnation gegeben – am oberen Rampenbereich. Das ließe sich nicht getrennt vom Tunnel betrachten. An diesem Punkt muss man sich auf die Perspektive des Beamten einlassen. Plötzlich ergibt sich ein anderes Bild und die Motivation hinter den Polizeiketten wird etwas nachvollziehbarer.
Der Beamte beruft sich auf seine Erfahrungen aus Fußballspielen und die der Autobahnpolizei. Er nennt zwei wesentliche Gründe für Polizeiketten:
- Eine Polizeikette nehme den Druck aus einer Menschenansammlung. Dies werde zum Beispiel bei Fußballspielen eingesetzt, wenn rivalisierende Fans aufeinandertreffen.
- Eine Sperre könne genutzt werden, um eine Pufferzone einzurichten. Um dieses Verfahren zu verdeutlichen, zieht der Zeuge verschiedene Beispiele aus dem Alltag hinzu, wie etwa die Situation auf der Autobahn nach einem Unfall. Wäre alles planmäßig verlaufen, hätte am Eingang zum Loveparade-Gelände die Polizeikette schon nach 10 Minuten wieder aufgelöst werden sollen. In dieser Zeit wäre zwischen der Blockade und dem Tunnel eine freie Fläche entstanden. Gleichzeitig hätten die Ordner oben an der Rampe die Menschenansammlung auf das Gelände ziehen und den Zugang frei machen sollen. Zum Schluss wäre die Polizeikette wieder aufgehoben worden und die nachströmenden Menschen hätten schneller auf das Gelände kommen können.
Doch es gibt auch zwei Gründe, warum dieser Plan schief gelaufen ist.
- Die Ansammlung oben auf dem Gelände ist nicht aufgelöst worden. Dafür seien die Pusher des Veranstalters zuständig gewesen. Der Beamte war von 100-150 “Türsteherkanten”, wie er sagt, ausgegangen. Tatsächlich sollen auch nach Aussage des Crowd Managers nur sechs Ordner da gewesen sein.
- Die Vereinzelungsanlagen an den Tunneleingängen hätten dicht sein müssen. Stattdessen sind immer mehr Menschen in den Tunnel geströmt und haben den Druck noch weiter erhöht.
Abschließend habe ich den Eindruck, dass hier ein Beamter gesessen hat, der nach bestem Gewissen gehandelt hat. Aber wie gerade jemand im Raum so schön formuliert hat, würden die Amerikaner jetzt sagen: “The road to hell is paved with good intentions.”