Die Landesgeschichte ist auf den Fluren des Parlaments allgegenwärtig. Eine Ahnengalerie der einstigen Landtagspräsidenten erinnert daran, dass die Demokratie Ämter eben nur auf Zeit vergibt. Im CDU-Fraktionssaal hängen, akkurat und chronologisch sortiert, vor der gediegenen Holzvertäfelung die Fraktionsvorsitzenden: großformatige Portraitfotos, schwarz-weiß, von Adenauer bis Laschet. Wer die CDU kennt, weiß, dass ihre Mitglieder in aller Regel geschichtsbewusst sind. Sie kennen die Historie Deutschlands, des Landes und der Partei. Sie können Anekdoten erzählen, von glorreichen Siegen und bitteren Niederlagen. Sie erinnern sich an Sternstunden und Tiefpunkte. Und sie versichern sich und anderen, stets die richtigen Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit ziehen zu wollen. Soweit die Theorie.
Wer sich in der CDU Hoffnungen macht
Und nun zur Praxis: Von wegen Lektion gelernt. Was sich derzeit in der Union in Nordrhein-Westfalen abzeichnet, ist das genaue Gegenteil. Wenn die Wahl am Sonntag gelaufen und Ministerpräsident Armin Laschet womöglich Geschichte sein wird – also in Berlin seine politische Zukunft sieht und nicht mehr in Düsseldorf -, dann wird der Startschuss für das Rennen um seine Nachfolge fallen. Was der Partei dann bevorstehen könnte, sieht eher nach Wahlkampfhilfe für den politischen Gegner aus als nach einem guten Plan für die eigene Zukunft.
Der Wahltag ist gerade aus NRW-Sicht besonders spannend: Wird #Laschet Kanzler? Und wenn nicht: Bleibt er trotzdem in Berlin? @DanielaJunghans, @HeideRasche und @jotrum mit einem Blick auf die #btw21 durch die NRW-Brille in unserem Podcast: https://t.co/moaEZMV7aw pic.twitter.com/qh0sbDbgiY
— Westpol (@Westpol) September 24, 2021
Hendrik Wüst, der für politische Verhältnisse noch recht junge Verkehrsminister, ist schon früh als Favorit für Laschets Nachfolge gehandelt worden. Sehr zum Ärger derer, die sich auch Hoffnung machen. Bauministerin Ina Scharrenbach zum Beispiel. Auch zum Verdruss derer, die aus ihrer Abneigung gegen Wüst keinen Hehl machen. Fraktionschef Bodo Löttgen etwa. Auch der äußerst populäre Innenminister Herbert Reul war von der Idee, Wüst könne doch gleich alles in einem, Ministerpräsident, Landesvorsitzender und Spitzenkandidat für die Landtagswahl im Mai 2022 werden, wenig begeistert. Dem Vernehmen nach bemüht er sich jetzt um ein Landtagsmandat fürs kommende Jahr, will selbst nach dem Parteivorsitz greifen. Nach klein beigeben sieht das nicht aus. Also alle gegen Wüst? Nicht ganz. Eine Mehrheit der Fraktion dürfte hinter dem Münsterländer stehen. Die politischen Vereinigungen, etwa die Mittelstandsunion, der Arbeitnehmerflügel oder die Junge Union, unterstützen ihn ebenfalls. Und in der Riege der acht Bezirksvorsitzenden gibt es auch eine Mehrheit.
Von leise und verschämt zu offen und brachial?
Und doch steuert die Partei auf einen Machtkampf zu. Noch eher leise und verschämt, demnächst aber vielleicht ganz offen und brachial. Was immer der Wahlsonntag bringt, er könnte Schockwellen auslösen, die die CDU NRW voll erwischen. Laschet ist dann weg oder nicht mehr mit der vollen Autorität ausgestattet, die es braucht, um die streitenden Diadochen zur Raison zu rufen. Ein erbitterter Streit mit offenem Visier, Wüst gegen Reul. Ein Kampf, der die Partei zerreißen könnte. All das hat die Union im Bund gerade hinter sich. Wer auf die Idee kommt, das empfehle sich nun zwingend zur Nachahmung, sollte mal im Adenauerhaus nachfragen, wie spaßig sie dort die letzten Monate fanden. Oder die Geschichte studieren.
Die CDU hierzulande liefert selbst ein Paradebeispiel dafür, wie man sich das Leben zur Hölle machen kann. Jahrzehntelang hat sie genau das getan, war mehr mit sich selbst beschäftigt als mit dem politischen Gegner. Die Erkenntnis daraus ist so simpel wie wirkungsvoll: Nur, wenn die CDU geschlossen ist, ihre inneren Konflikte auflöst oder einhegt, kann sie Wahlen gewinnen. Wie 2005 und 2017. Die Ironie der Geschichte ist: Eigentlich wissen das alle. Wirklich alle. Und doch könnte es zum Showdown kommen. Vielleicht reicht es eben nicht, sich seine Geschichte immer wieder zu erzählen. Es ist am Ende eine Frage der politischen Klugheit, die Lehren daraus auch zu beherzigen.