Am letzten Prozesstag hatte im Gerichtssaal, nur einer das Wort: Der vorsitzende Richter Mario Plein. Niemand durfte Fragen stellen oder Stellung nehmen. Das Verfahren werde eingestellt und Herr Plein wolle jetzt eine dreistündige Erklärung vortragen, hieß es. Nach diesen drei Stunden solle jeder im Saal verstanden haben, warum es zur Loveparade-Katastrophe mit 21 Toten und mindestens 650 Verletzen gekommen sei. Bei dieser Erklärung nutzt der Richter unter anderem Informationen und Bilder aus dem 3800 Seiten umfassenden Gutachten des Sachverständigen Prof. Gerlach. Die Prozessbeteiligten dürfen diese Thesen heute nicht hinterfragen. Der Richter fasst die wichtigsten Punkte des Gutachtens zusammen. Und ich fasse die wichtigsten Punkte des Richters hier im Blog zusammen. Ursprünglich sind für den Gutachter zehn Prozesstage angesetzt gewesen. Trotz Protests seitens der Nebenkläger wird der Sachverständige nicht angehört.
Fehlgeleitete Menschenströme
Das wichtigste aus den Ausführungen des Richters ist aus meiner Sicht, dass eine fehlerhafte Planung an zwei neuralgischen Stellen zum tödlichen Gedränge geführt haben soll:
1. Die Vereinzelungsanlagen, die kontrollierten Einlässe, auf beiden Seiten des Tunnels sollen schon durch ihre Plan- und Bauweise zu Staus geführt haben. Die Menschenmasse, die sich vor den Absperrungen aufbaute soll durch eine Kommunikationspanne genau in dem Zeitraum in den Tunnel geleitet worden sein, als drinnen andere Maßnahmen durch Polizeiketten in Gang gewesen seien. Diese Polizeiketten sollen in dem Glauben errichtet worden sein, dass die Zugänge geschlossen waren.
2. Der zweite neuralgische Punkt, den Richter Plein benennt, erklärt, warum es oberhalb der Rampe auf dem Veranstaltungsgelände zu einem Stau kam. Auf dieser Fläche sollen drei Menschenströme aufeinander getroffen sein: a) die Menschen, die nach einem Fußmarsch durch die Stadt endlich die Parade sehen wollten. b) die Menschen, die die Party wieder verlassen wollten c) die Menschen, die feiernd und tanzend neben den Floats (Musik LKWs) herliefen. Für diese drei Menschenströme soll an dieser Stelle einfach nicht genug Platz gewesen sein. Deshalb seien die Menschen oben stehen geblieben sein, während die nachkommenden Besucher sich auf der Rampe stauten.
Viele sind schuld, keiner wird bestraft
Neben den planerischen Irrtümern an diesen zwei Punkten weist das Gericht auch auf Fehler von anderen Akteuren hin. Schließlich seien auch Ordnungsamt, Bauamt, Landespolizei, Bundespolizei und die Feuerwehr an der Planung des Ganzen beteiligt gewesen und hätten Fehler gemacht.
Ich finde, man könnte jetzt fragen, warum nicht auch gegen Verantwortliche aus diesen Bereichen Anklage erhoben worden ist. Wohl deshalb, weil die Ermittlungsbehörden und die Staatsanwaltschaft nicht genug Beweise für eine Anklage zusammentragen konnten? Oder man findet sich damit ab, dass es viele gab, die Mitschuld am Unglück tragen und gerade deshalb keiner individuell bestraft werden kann.
Die Predigt an die Mutter
Am Ende richtet Richter Mario Plein das Wort an die einzige Nebenklägerin, die heute trotz Corona-Pandemie im Saal sitzt. Es ist die Mutter eines Verstorbenen. Richter Plein äußert Verständnis. Für ihn seien das die schwersten drei Jahre seines Lebens gewesen. Das Gericht habe aufgeklärt, wie es zum Unglück gekommen sei. Auch habe er versucht sich in die Mutter hineinzuversetzen. Er verstehe, dass sie sich lieber wünsche, dass er ihr einen Bösewicht präsentiere. Doch den gebe es hier einfach nicht. Er hoffe, dass sie sich nach einiger Zeit mit seiner Erklärung zufrieden gebe. Aus den heute gutgefüllten Pressereihen höre ich nur wie ein Kollege murmelt: “Was soll jetzt denn diese Predigt?”. Auch bei mir weckt die Ansprache das Gefühl, dass hier gerade das Opfer belehrt wird. Sprechen Richter nach ihrem Urteil nicht eher den Angeklagten ins Gewissen? Die spielen aber irgendwie eine Nebenrolle.
Die zweifellos gutgemeinten letzten Worte des Richters trüben meinen Eindruck vom Verfahren. Dabei hat die Strafkammer aus der Sicht vieler Prozessbeteiligten und -beobachter in den vergangenen drei Jahren einen außerordentlichen Job geleistet. Den Job eines Untersuchungsausschusses, der primär nicht ihre Aufgabe ist. Dennoch hätte ich mir gewünscht, dass die Opferfamilien an diesem Tag Gelegenheit gehabt hätten, anwesend zu sein und sich zu äußern. Auch wenn es juristisch unerheblich ist, wäre es für mein Empfinden ein würdigerer Abschluss für alle gewesen.