Kaspar Hauser ist der wohl berühmteste Fall, Mogli und Tarzan brachten es zu literarischen und filmischen Ehren: So genannte “Wolfskinder” faszinieren viele Menschen – Kinder also, die Jahrelang verschwunden waren, irgendwann wieder auftauchen und mitunter Verhaltensweisen von Tieren angenommen haben, so dass man vermuten könnte, sie wären von Tieren gerettet, ernährt, großgezogen worden. P.J. Blumenthal, Münchener Publizist, der aus der New Yorker Bronx stammt, hat sich über Jahrzehnte mit diesen Geschichten beschäftigt und nachrecherchiert, was er recherchieren konnte. Das Ergebnis: Sein opulentes Buch “Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem wilden Menschen”, das jetzt in komplett überarbeiter Neuauflage gebunden wieder auf den Markt kommt. (Franz Steiner Verlag, 442 Seiten, 26 Euro). Eine faszinierende Lektüre, hoch spannend und ausgesprochen informativ. Mogli und Tarzan sind Legende, erfunden, P.J. Blumenthal kommt zu dem Schluss, dass es eigentlich undenkbar ist, dass tatsächlich Menschenkinder von Tieren gesäugt und großgezogen werden. Trotzdem gab es im Lauf der Geschichte Dutzende dokumentierte Fälle von Kindern, die lange, mitunter über Jahre, verschwunden waren und plötzlich wieder “auftauchten”; es gibt sie also auf jeden Fall, die Wolfskinder. Die Frage ist nur: Was haben sie erlebt – und vor allem wie haben sie überlebt? Nicht minder interessant als die Geschichten an sich, sind die Arten und Weisen, wie sie erzählt und kommentiert und verbreitet und letztlich zum Mythos werden, was P.J. Blumenthal in seiner Recherche immer wieder auch mit aufarbeitet: So manches erklärt und relativiert sich – so einiges bleibt ein großes Fragezeichen.
Was bedeutet es für einen Menschen – wenn er komplett unter Tieren aufwächst?
Um es gleich vorwegzunehmen: Ein Mensch kann nicht komplett unter Tieren aufwachsen. Das Tier hat Wichtigeres zu tun, als sich um einen hilflosen Menschensäugling zu kümmern. Das Menschenkind würde in einer derart misslichen Lage eingehen. Mogli und Tarzan sind literarische Erfindungen. Wenn ein Mensch überhaupt dazu kommt, unter Tieren zu leben, dann nur als Obertier. Der russische Straßenknabe Iwan (1998) zum Beispiel versorgte die Hunde, mit denen er zusammenlebte. Er war also das Herrchen. Der Hirtenjunge Marcos, lebte zwölf Jahre allein in der Sierra Moreña. Seine Kameraden waren Tiere (Wölfe, Fuchs, Schlange usw.). Es waren aber Nutznießer, weil er sie manchmal fütterte.
Heißt: Alles Legende?
Es gibt schon Menschen, die mit wilden Tieren zusammenlebten. Beispiel John Ssebunya. Als Vierjähriger verbrachte er möglicherweise sechs Monate in der Gesellschaft von Meerkatzen, einer Affenart in Uganda. Er lebte aber neben und nicht mit den Affen. Denn diese Affen dulden Artfremde. Sie haben ihn aber nicht versorgt – er las lediglich das auf, was die Tiere in ihrer Hast nicht fraßen.
„Homo ferus“, woher stammt der Begriff – und was genau ist damit gemeint? Auf Deutsch: „Wolfskinder“. Warum das? Könnten ja auch „Affenkinder“ sein, oder?
Der schwedische Naturwissenschaftler Carl von Linnaeus prägte im 18. Jh. den Begriff „homo ferus“, den „wilden Menschen“. Linnaeus hatte den Ehrgeiz, alle Lebewesen in Kategorien einzuteilen – auch den Menschen. So stampfte er Gattungen aus dem Boden: „homo americanus“, „homo afer“, „homo europaeus“ und auch „homo ferus“. Wilde Kinder als „Wolfskinder“ zu bezeichnen, ist eine deutsche Erfindung und hängt wahrscheinlich mit der Beliebtheit der Mogli-Figur in Kiplings „Dschungelbuch“ zusammen. Auch „homo ferus“ teilte der ordentliche Linnaeus in Untertypen ein: „homo hirsutus“ (behaart), „homo tetrapodus“ (der Mensch, der auf allen Vieren geht), und „homo mutus“ (der stumme Mensch). Letzte Kategorie trifft die Situation der wilden Kinder ziemlich genau: Denn die wahre Tragödie des wilden Menschen liegt in seiner Sprachlosigkeit.
Wie erklären Sie sich die Faszination, die die Wolfskinder auslösen? Das ist ja immerhin seit hunderten Jahren ein Thema..
Es geht in erster Linie um eine Sehnsucht nach einem unschuldigen Urzustand des Menschseins. Die sogennanten „Wolfskinder“ sollten uns dieses Geheimnis öffnen. Wolfskinder sind irgendwie stellvertretend für Adam und Eva.
Welche Faszination bringt Sie selbst dazu, sich so intensiv mit dem Thema zu beschäftigen?
Es war zuerst Neugier. Mir war das Thema unbekannt, bis ich auf einem Flohmarkt auf das Werk „Die Wilden Kinder“ von Lucien Malson stieß. Nun wollte ich mehr wissen.
Welcher Fall hat Sie persönlich am meisten fasziniert?
Mich hat das Schicksal von Marcos, dem wilden Jungen von der Sierra Moreña gerührt, vielleicht weil wir gleichen Jahrgangs sind. Mit sechs Jahren wurde er von seiner Familie an einen Großgrundbesitzer verkauft und verbrachte die nächsten 12 Jahre als einsamer Hirtenjunge in der Wildnis. Marcos hatte das Sprechen nie verlernt und konnte deshalb später über seine Erlebnisse erzählen. Oft habe ich gedacht: Das hätte auch mir passieren können.
Wenn man sich die Geschichten von Wolfskindern anschaut – wie viele gibt es, die wirklich als „Wolfskinder“ zählen dürfen? Haben Sie ein Beispiel?
Ich habe eine große Fallsammlung zusammengestellt: ca. 120 Fälle. Davon sollten etwa viele bei den Wölfen, Bären, Löwen, Sträußen usw. gehaust haben. Es ist allerdings zweifelhaft, dass auch nur ein einziger Fall eine wahre Geschichte wiedergibt. Serge Aroles, ein Kollege auf diesem Gebiet, hat in Indien recherchiert und ist der Meinung, dass ein Junge um das Jahr 1880 (genannt: „das zweite Wolfskind von Sekandra“) mit einer scheinträchtigen Wölfin zusammengelebt hätte. Wir werden es aber nie genau wissen. Dass es Kinder gibt, die einsam und fernab dem Einfluss der Menschenkultur gelebt haben, darf aber nicht bezweifelt werden. Ihre Geschichten sind wichtig zu erfahren.
Ist das überhaupt vorstellbar, dass ein Mensch komplett von Tieren aufgenommen und „erzogen“ wird?
Einfache Antwort: Nein. Zu unterschiedlich sind Mensch und Tier – so wohl geistig wie auch körperlich. In manchen Kulturen werden Menschenkinder drei Jahre gestillt. Wölfinnen säugen ca. sechs Monate. Außerdem ist die Beschaffenheit von Wolfsmilch ungesund für Menschen.
Was macht diese Kinder denn für die Wissenschaft interessant?
Der Homo Ferus bewohnt ein Grenzgebiet des Menschseins. Eifrige Forscher erhoffen sich, durch ihn Erkenntnisse über das Wesen des Menschseins zu gewinnen. Das geht allerdings meistens in die Hose.
Welche Erkenntnisse gibt es, was „berichten“ die ehemaligen Wolfskinder von ihren Erfahrungen?
Nur die wenigsten „Wolfskinder“ waren in der Lage, über ihre einsame Vergangenheit zu berichten. Denn die meisten blieben Zeit ihres Lebens stumm. Wolfskinder, die in die Welt der Menschen zurückkehren, holen nie das auf, was sie an Entwicklungen verpasst haben. Marcos, inzwischen 72 Jahre alt, beklagt sich über sein Außenseiterdasein noch heute und behauptet, er wäre lieber bei seinen Wölfen. Ob er das wirklich glaubt? Im 18. Jh. wurden manche „Wolfskinder“ zu Berufswilden. Die tingelten durch die Jahrmärkte und Höfe und erzählten bunte Märchen von der lieben Mamabärin oder Mamawölfin und von der Freiheit in der Natur.
Gibt es so etwas wie einen „fließenden“ Übergang zwischen Tier und Mensch? Was macht den entscheidenden Unterschied aus?
Wenn man das auf einen Nenner bringen sollte, lautet die Antwort: Sprache. Kein Tier – mit Ausnahme des Menschentiers – ist in der Lage, eine komplizierte Sprache zu erfinden und gebrauchen, wie wir es tun. Oder sagen wir es so: Ein Mensch kann bis zu einem gewissen Punkt „vertieren“. Ein Tier hingegen wird nie zu einem Menschen – außer in Kafkas „Bericht vor einer Akademie“ und in anderen Geschichten.
Gibt es Wolfskinder, die auch nach ihrer Entdeckung mehr Tier bleiben als sie Mensch werden?
Mit Sicherheit. Doch die Gründe sind verschieden. Manche litten von vornherein an einer angeborenen bzw. erworbenen geistigen Schwäche. Manche waren eindeutig autistisch. Wie dem auch sei: Sie sind nicht in der Lage als normale Menschen zu leben. Genie zum Beispiel, die bis zum 13. Lebensjahr von dem sadistischen Vater an einem Stuhl gefesselt wurde, war nicht mehr in der Lage, ihre amerikanische Muttersprache zu beherrschen.
Was glauben Sie, gibt es Wolfskinder, die niemals entdeckt wurden, die unter Tieren geblieben sind?
Nein, das glaube ich nicht, weil ich weder an Tarzan, Mogli noch an den Weihnachtsmann glaube.
Heute, in der vermessenen Welt – ist es da überhaupt denkbar, dass man noch Wolfskinder entdeckt?
Auf jeden Fall können wir weiterhin mit Wolfskindern rechnen. Wo Krieg und Gewalt herrschen, fliehen Kinder in den Wald oder in die Wildnis. Zwar sterben die meisten. Einige wenige überleben doch. Ihre Geschichten erzähle ich in „Kaspar Hausers Geschwister“ in Hülle und Fülle.
Andere Themen, aber auch sehr interessant: P.J. Blumenthal bloggt hier als “Sprachbloggeur” – zum Beispiel über seine ganz persönliche Eroberung der deutschen Sprache …
Bibliographische Angaben zum Buch:
P.J. Blumenthal
Kaspar Hausers Geschwister
2018, erweiterte Neuausgabe.
Gebunden mit Schutzumschlag, ca. 420 Seiten.
Franz Steiner Verlag
ISBN: 978-3-515-11646-6
€ 24,-