Zugleich auf der „Weltempfänger“-Bestenliste für internationale Literaturen und auf der Krimibestenliste platziert zu sein, das gibt’s nicht aller Tage. Lucía Puenzo ist es jetzt gelungen – mit ihrem neuen Roman „Die man nicht sieht“ (Wagenbach, übersetzt von Anja Lutter, Euro 20,–)
Die man nicht sieht, das sind zum Beispiel die Straßenkinder in Buenos Aires. In diesem Fall Ismael, Enana und Ajo, zwei Jungs, ein Mädchen. Sie sind darauf spezialisiert, in Häuser reicher Menschen einzusteigen, im Auftrag von Wachleuten, die diese Häuser eigentlich schützen sollen. Was heißt: Immer nur so viel stehlen, dass es (erstmal) keinem auffällt. Und darin sind die Drei ziemlich gut. So gut, dass sie im Sommer einen Spezialauftrag bekommen: Jenseits der nicht so weit entfernten Grenze sollen sie in einer Millionärssiedlung am Meer in Uruguay ihren Job erledigen. 12 Villen, die über ein großes Areal verstreut sind, dazwischen Wald und Landschaft, zum Schutz der Privatsphäre der Bewohner. Gegend also, in der man sich tagsüber verstecken kann. So weit, so gut. Allerdings läuft natürlich (fast) nichts wie geplant. Die Reise ist schon ein Abenteuer, illegal über die Grenze, von der die Drei bis dahin noch nicht mal etwas wussten; danach geht es erst ganz okay, dann schief, schließlich um Leben und Tod. Und es ist klar, dass niemanden interessiert, was mit denen, die man nicht sieht, letztlich geschieht, sie sind auf sich allein gestellt …
„Die man nicht sieht“ ist Milieustudie, Abenteuerroman, Thriller und Bildungsgeschichte in einem, eine packende Geschichte auf dokumentarischem Grund; straff inszeniert und knapp erzählt, lotet Lucía Puenzo die Grauzonen aus, die sich innerhalb der Klingen der weit ausgeklappten Schere zwischen Arm und Reich finden lassen, wenn man bloß genau genug hinschaut. Eine sozialkritische Geschichte, wenn man so will, allerdings ohne Zeigefinger; ganz im Gegenteil – diese Autorin versteht sich darin, ein Thema zu platzieren, dabei aber doch in erster Linie blendend zu erzählen, mit Dynamik und Pfiff.
Luciá Puenzo, geboren 1976, ist Schriftstellerin und Filmemacherin – wem der Name bekannt vorkommt, der interessiert sich möglicherweise vor allem auch für Filmberichterstattung, denn als Filmemacherin wurde Puenzo in Europa bislang größer gehandelt denn als Schriftstellerin: Schon 2007 wurde sie bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnet, für ihren Film „XXY“ – 2012 wurde ihr fünfter Film „Wakolda“, der jede Menge internationale Preise abstaubte, dort uraufgeführt. Bei Netflix ist sie auch aktiv, Ende vergangenen Jahres ging die zweite Staffel der mexikanischen Serie „Ingobernable“ online, bei der Lucía Puenzo zusammen mit anderen Regie geführt hat.
Apropos „Wakolka“: Grundlage des Films ist Puenzos Roman „Wakolda“ (Wagenbach, Euro 18,90), der 2012 in Deutsche übersetzt wurde. In der Geschichte geht’s um Josef Mengele, einen der grausamsten NS-Kriegsverbrecher, den Lagerarzt des KZ Auschwitz, der nach dem Krieg in Südamerika untertauchte und niemals vor Gericht gestellt wurde, auch dem israelischen Geheimdienst immer wieder entkam. Lucía Puenzo erzählt seine Geschichte als dokumentarischen Thriller, bei dem einem eher dokumentarischen Momente als die Spannungsebenen das Blut in den Adern gefrieren lassen, ein exzellentes Buch. Das sie schon 2011 im Original veröffentlichte – was vor allem deshalb bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, wie der Franzose Olivier Guez für sein in vielerlei Hinsicht ganz ähnliches „Das Verschwinden des Jose Mengele“-Projekt (Aufbau Verlag, Euro 20) im letzten Jahr gefeiert wurde. Lucía Puenzo ist ein Vorreiterin. Und so oder so: Eine der interessantesten internationalen Schriftstellerinnen, die man im Moment entdecken kann.
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Das Buch ist schon bestellt. Danke.