Immer noch und immer wieder: Geschwistergeschichten (aus Kanada und Singapur/Japan/Indonesien)

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Immer noch und immer wieder: Geschwistergeschichten (aus Kanada und Singapur/Japan/Indonesien)

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Geschwisterverhältnisse sind besondere Beziehungen. So alt wie die Literatur, kennen wir seit der Bibel, mindestens; psychologisch trotzdem ein großes Mysterium, nach wie vor. Und immer wieder mal ein konzentriertes Thema auf dem Buchmarkt, so wie jetzt ebenfalls einmal mehr.

Beispiel Nr. 1: „Niemals ohne sie“, der neue Roman der kanadischen Schriftstellerin Jocelyne Saucier (Insel Verlag, Euro 20,–, übersetzt von Sonja Finck). Das Spektakuläre an dieser Geschichte ist zunächst mal die Tatsache, dass auf gerade mal 255 Seiten die Geschichte von 21 (!) Geschwistern und ihren beiden Eltern erzählt wird – und dass diese Verknappung dem Ganzen überhaupt nicht schadet. Erzählt wird auf zwei Ebenen, die Kindheit in einem sterbenden Goldarbeiterstädtchen einerseits; ein Wiedersehen nach vielen, vielen Jahren, lange nachdem sich die Brüder und Schwestern in alle Winde verteilt haben, auf der anderen Seite. Die Cardinals schauen dabei, dass sie nie alle in einem Raum sind – damit es nicht auffällt, das eine Schwester fehlt. Das Familientrauma als Scharnier zwischen den Ebenen; ein Trauma, von dem alle wissen, das alle verdrängen; erst am Ende gelingt es, darüber zu sprechen, möglicherweise. Der Roman setzt sich, wenn man so will, aus mittellangen Erzählungen zusammen, berichtet aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlicher Geschwister, die jeweils manche Sachen wissen, andere nicht – und die immer ihre ganz eigene Sicht mit einbringen, so dass sich erst im Gesamten auch ein Gesamtbild ergibt, dass allerdings allerlei Risse und Überraschungen birgt. „Niemals ohne sie“ ist jedenfalls einerseits eine berührende Geschichte; andererseits ein Meisterwerk der Erzählökonomie, in der Hinsicht lässt es einem fast den Atem stocken – ein exzellenter und besonderer Roman.

Zweites Beispiel: „Rainbirds“, der Debütroman von Clarissa Goenawan (Thiele Verlag, Euro 20,–, übersetzt von Sabine Lohmann). Clarissa Goenawan stammt aus Indonesien, lebt in Singapur – und ihre Geschichte ist in Japan angesiedelt: Ren Ishido, ein junger Mann aus Tokyo, bekommt die Nachricht, dass seine ältere Schwester, die in einer Provinzstadt namens Akakawa als Lehrerin gearbeitet hat, ermordet wurde. Die beiden hatten ein enges Verhältnis zueinander, keines aber zu den Eltern. Also fährt Ren nach Akakawa, um Keikos Angelegenheiten zu erledigen und die Beerdigung zu organisieren. Statt nach ein paar Tagen wieder abzureisen, bleibt Ren kleben, übernimmt Keikos Job an einer Paukschule, bald sogar ihre Wohnung, einen Nebenjob – und taucht immer mehr in die Geheimnisse des Lebens seiner Schwester ein, von denen er nichts wusste. Zugleich spürt er ihrer beider Verhältnis und dem zu den Eltern nach; entdeckt auch in der Hinsicht allerlei Geheimnisvolles. Eine Ermittlung also, im weiteren Sinne, kombiniert mit der Identitätssuche eines jungen Mannes, der zu sich selbst finden muss; zugleich eine Auseinandersetzung mit althergebrachten gesellschaftlichen Kodici, die zu solchen Sachen überhaupt erst führen. Erinnert mitunter schon sehr an Haruki Murakami, den Clarissa Goenawan auch als Vorbild nennt; stört aber letztlich nicht, weil dieser Roman richtig Spaß bereitet: Clarissa Goenawan ist eine hoch begabte Erzählerin, die hier eine ganz merkwürdig-mysteriöse, zarte Geschichte zu zaubern wusste, die sich selbst nach der Lektüre im Hirn noch tagelang weiter erzählt.

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