Mustafa Khalifa war in der Hölle, dreizehn Jahre lang, von 1981 bis 1994. Seine Erlebnisse hat er mit denen eines anderen Mannes, den er dort traf, vermengt und zu einer Geschichte gemacht. Der des Romans „Das Schneckenhaus“ (Weidle Verlag, Euro 23,–), der 2008 auf Arabisch erschien, jetzt auch von Larissa Bender ins Deutsche übertragen wurde: Ein junger Mann, angehender Dokumentarfilmer, kehrt nach dem Studium zurück nach Damaskus – und wird ohne ersichtlichen Grund noch am Flughafen festgenommen. Es folgt ein Martyrium aus Folter, Qual, Demütigung, Hunger, Einsamkeit, tagtäglicher Todesangst. Einen Großteil der Zeit verbringt der Erzähler in einer Massenzelle im Wüstengefängnis Tadmor, erbaut noch von den Franzosen zur Kolonialzeit, später Folter- und Hinrichtungszentrum des Assad-Regimes für Jahrzehnte; ein Gefängnis, das als eines der unerträglichsten der Welt galt, bis ausgerechnet der IS es 2015 zerstörte. Der junge Mann überlebt, möglicherweise zumindest, sofern man so etwas überhaupt überleben kann; seine Strategie ist, alles, was er sieht, mit den Augen eines Dokumentarfilmers zu beobachten und zur späteren Dokumentation innerlich zu notieren. Das Ergebnis: Eben dieser Roman, „Das Schneckenhaus“. Der so brillant wie unerträglich ist. Unfaßbar. Ein Dokument – und Anklage zugleich. Ein Werk über die erbärmlichsten und bösesten menschlichen Abgründe. Und doch auch, sofern man das bei so einem Bericht aus der Hölle überhaupt sagen darf, ein exzellent konstruierter und erzählter Roman. Ein enorm wichtiges Buch, Weltliteratur.
Sayed Kashua, geboren 1975, ist einer der bekanntesten Autoren Israels, als Kolumnist, Kritiker, Verfasser von Drehbüchern, Schriftsteller. Bekannt ist er, weil er gut ist, bissig und witzig; besonders macht ihn die Tatsache, dass er palästinensischer Herkunft ist, aber auf Hebräisch schreibt. Wobei das alles eigentlich nicht ganz richtig ist – denn Kashua ist vor einiger Zeit ins Exil in die USA gegangen, weil er das Leben als Palästinenser in Israel, trotz aller Privilegien, die sein Erfolg bedingt, nicht mehr ertragen konnte. Er war also eher einmal ein bekannter Intellektueller in Israel … Wie auch immer, „Lügenleben“ (Berlin Verlag, Euro 24,–), sein gerade übersetzter aktueller Roman, erzählt nun von einem Mann, der nach vielen Jahren im Exil nach Israel zurückkehrt, weil sein Vater im Sterben liegt. Einerseits geht es dabei um die Reise und aktuelle Beobachtungen, andererseits und vor allem natürlich um die Vergangenheit – und um die Gründe, die dem Erzähler keine andere Wahl ließen, als ins Exil zu gehen. Im Mittelpunkt steht eine Kurzgeschichte, die er, eigentlich Journalist, eher nebenbei schrieb, und die sowohl für ihn wie auch eine ihm gänzlich unbekannte Frau – jetzt: seine Frau, was auch immer das heißen mag – fatale Folgen hatte. Ein Roman übers Erleben, Erinnern und Erzählen, autobiographisch und zugleich auch nicht, eine Geschichte über die Macht der Geschichten zudem. Und natürlich ein Blick aufs Leben in Israel, nüchtern, gelassen, desillusioniert. „Lügenleben“ ist übrigens, nicht zuletzt, der letzte Roman, den die große Schriftstellerin und Übersetzerin Mirjam Pressler, die im Januar 2019 starb, aus dem Hebräischen ins Deutsche übertragen hat.
Apropos Israel und Deutschland: Die oft allzu ritualisierte Erinnerungskultur an den Holocaust scheint hier wie dort ein Thema zu sein – zumindest ist sie eines in „Monster“ (Kein & Aber, übersetzt von Ruth Achlama, Euro 21,–), dem neuen Roman des israelischen Schriftstellers Yishai Sarid. Sein Erzähler ist ein junger Historiker, der keine andere Chance hat, seine Familie zu ernähren, als der große Experte für die Vernichtungslager der Deutschen im heutigen Osteuropa zu werden. Er forscht und forscht; vor allem aber arbeitet er als Tourguide für Israelis, meist Schulklassen oder SoldatInnen, die insbesondere nach Auschwitz-Birkenau reisen; zugleich berät er Startups oder auch die israelische Armee, wenn Expertise zum Holocaust und insbesondere zur „Vernichtung“ in den dafür vorgesehenen Konzentrationslagern gefragt ist. Sein Wissen, seine Beobachtungen, die Reaktionen insbesondere der oft bloß halbinteressierten SchülerInnen, das ständige Unterwegssein, ein arroganter deutscher Dokumentarfilmer, der ihn als „typischen Juden“ für einen Film instrumentalisieren will – all das lässt ihn zu einer kleinen, aber Aufsehen erregenden Tat schreiten, die einen Bericht an den „Herrn Direktor von Yad Vashem“ verlangt, der eben den vorliegenden Roman ausmacht. Sehr schlau gemacht und erzählt, das Ganze, und zwar konzentriert auf knappem Raum: Yishai Sarid, geboren 1965, ehemaliger Nachrichtenoffizier, macht die Krise der Erinnerung kenntlich, leuchtet ihre Grenzen aus, deutet ihre Möglichkeiten an, hält sie in entscheidenden Details lebendig – und zeigt so zugleich implizit, worauf es wohl in Zukunft ankommen wird: Jemand muss sich die richtigen Geschichten ausdenken, heutige Geschichten, die doch die Geschichte lebendig halten.