Im Wüstengefängnis: Mustafa Khalifa und sein Roman “Das Schneckenhaus”

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Im Wüstengefängnis: Mustafa Khalifa und sein Roman “Das Schneckenhaus”

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In Kriegs- und Krisenzeiten blüht die Literatur. Alte Beobachtung, die sich immer wieder bestätigt, zuletzt und zur Zeit in Syrien. Unter den vielen bemerkenswerten Texten syrischer AutorInnen der letzten Jahre ist der Roman “Das Schneckenhaus” von Mustafa Khalifa nochmal herausragend: Ein erschütterndes Dokument der Wurzeln des syrischen Konflikts, das die Demokratiebewegung entscheidend befeuert hat – und zugleich ein Text, dem auch eine universelle Bedeutung inne wohnt, eine Beobachtung des Bösen im Menschen und der Umstände und Interessen, die es böse sein lassen. Larissa Bender, die “Das Schneckenhaus” ins Deutsche übersetzt hat, erläutert einige Hintergründe zum Roman.

Während Syrienreisende bei dem Namen Palmyra früher meist die wunderschöne römische Antikenstätte mit Baal-Tempel, Triumphbogen und römischem Amphitheater nordöstlich der syrischen Hauptstadt Damaskus assoziierten, ist Tadmor, wie die Stadt in Syrien heißt, seit einigen Jahrzehnten unauslöschlich mit dem berüchtigten Militärgefängnis in der syrischen Wüste verbunden. In diesem Gefängnis, der »wahren Hölle Syriens«, das mit dem in Marokko gelegenen Tazmamart um die Bezeichnung des »schlimmsten Gefängnisses der Welt« konkurrierte, spielen die Ereignisse, die der syrische Schriftsteller Mustafa Khalifa in seinem Roman Das Schneckenhaus beschreibt.

Mittlerweile in neun europäische Sprachen übersetzt, wird “Das Schneckenhaus” als das »meistgelesene Buch in Syrien« oder als »Evangelium der syrischen Revolution« bezeichnet, obwohl der Roman bereits 2007 auf französisch und 2008 auf arabisch erschien – also drei Jahre vor Beginn des Volksaufstands gegen das syrische Regime. Es wird sogar kolportiert, die Menschen hätten den Roman damals abschnittweise auf ihren Mobiltelefonen gelesen und die jeweiligen Abschnitte aus Angst vor dem Geheimdienst sofort wieder gelöscht. Syrien erlebte damals eine breite Politisierung der Bevölkerung, und viele Menschen wagten zum ersten Mal, sich mit der grausamen Seite der Geschichte ihres Landes auseinanderzusetzen.

Gefängnisliteratur, die in der arabischen Welt seit Jahrzehnten als Literaturgattung anerkannt ist, bildet besonders in Syrien einen wichtigen Zugang zum Verständnis gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse. So auch dieser Roman, in dem Mustafa Khalifa ein eindrückliches Zeugnis von dem Gebaren eines Regimes ablegt, das seit den siebziger Jahren seine Macht durch die Verbreitung von Angst und Schrecken konsolidiert.

Tatsächlich spricht der Roman verschiedenste Schichten der syrischen Bevölkerung an, denn der Autor hat es geschickt verstanden, mit der Figur des namenlosen, unpolitischen, atheistischen jungen Mannes aus christlicher Familie, der der Mitgliedschaft in der Organisation der Muslimbrüder beschuldigt wird, für all diese Gruppierungen eine Identiftkationsmöglichkeit zu schaffen. Er ist ein »Jedermann«, der, obwohl er Jahre im Ausland verbrachte, vom Flughafen weg verhaftet wird. Die Botschaft ist eindeutig: Tatsächliches politisches Engagement oder sogar die körperliche Anwesenheit im Land sind unerheblich, der Arm der Staatssicherheit ist lang genug, um jeden zu erreichen.

Vielleicht aus diesem Grund und wegen der detaillierten Schilderung der Vorgänge im berüchtigten Wüstengefängnis halten sowohl Leser wie Feuilletonisten unerschütterlich an der Behauptung fest, es handele sich bei dem Roman Das Schneckenhaus um eine Autobiographie Mustafa Khalifas. Er selbst habe in Frankreich Regie studiert, sei nach seiner Rückkehr nach Syrien verhaftet und, obwohl ein »Christ«, unter der Beschuldigung der Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft in Tadmor inhaftiert gewesen. Selbst die Muslimbrüder, die das Lesen des Romans empfehlen und ihn auf einer ihrer Websites veröffentlichten, setzen in ihrer Empfehlung Autor und Protagonist gleich. Tatsächlich jedoch ist Mustafa Khalifa weder Christ, noch studierte er Filmregie in Paris. Aber er war als Mitglied einer linken Oppositionspartei jahrelang im Gefängnis von Tadmor inhaftiert.

Dieses berüchtigte Gefängnis, von der französischen Mandatsregierung erbaut, diente nach der Unabhängigkeit Syriens als Haftanstalt für kriminelle Militärangehörige. Nach dem Putsch des damaligen Verteidigungsministers Hafez al-Assad im Jahr 1970 entstand seit etwa Mitte der siebziger Jahre eine starke linke wie islamistische Oppositionsbewegung gegen das Regime. Viele Oppositionelle wurden als politische Gefangene in das Militärgefängnis von Tadmor überstellt, und ab 1979 stieg die Anzahl der dort eingekerkerten Zivilisten – ins- besondere Muslimbrüder und Kommunisten, aber auch syrische Anhänger der irakischen Baath-Partei, Palästinenser und Libanesen – in die Tausende.

Die Mitglieder der Muslimbruderschaft, mit denen der Protagonist des Romans in einer Gemeinschaftszelle eingesperrt ist, erfuhren von allen Gefangenen die härteste Behandlung. Die Partei war durch die Verfassung von 1973, in der die Vorherrschaft der Baath-Partei festgeschrieben worden war, in den Untergrund gedrängt worden. Es folgten mehrere Anschläge der mit den Muslimbrüdern in Verbindung stehenden »Kämpfenden Avantgarde« auf Armee- und Militäreinrichtungen, und 1979 kam es zu dem legendären Anschlag auf die Militärakademie in Aleppo. Dreiundachtzig alawitische Kadetten fan- den dabei den Tod. Als Reaktion wurden Hunderte Muslimbrüder verhaftet.

Kurz darauf kam es nach einem gescheiterten Anschlag auf den syrischen Präsidenten Hafez al-Assad zu dem im Roman erwähnten Massaker im Gefängnis von Tadmor. Mehrere Hundert in Tadmor einsitzende Muslimbrüder wurden am 27. Juni 1980 durch eine Spezialeinheit des Regimes ermordet. Als eine weitere Reaktion auf den Anschlag wurde die Mitgliedschaft in der Partei der Muslimbrüder im Juli 1980 per Gesetz unter Todesstrafe gestellt. Der Höhepunkt der Verfolgung der Muslimbrüder war jedoch das Massaker vom Februar 1982. In der Stadt Hama, seit jeher ein Zentrum islamischer Gelehrsamkeit und des islamischen Widerstands gegen das Regime, wurden nach einem Aufstand der Muslimbrüder laut den wenigen verfügbaren Quellen zwischen 10.000 und 40.000 Menschen durch verschiedene Spezialkräfte des Regimes ermordet.

Diese Entwicklung bildet die Vorgeschichte zu den im Roman beschriebenen Ereignissen, die, wie sich in Berichten von Amnesty International und Human Rights Watch nachlesen läßt, auf Tatsachen beruhen. So etwa die »Willkommensparty«, die jeder Neuankömmling durchlaufen mußte und bei der stets einige Gefangene starben. Ebenso die erwähnte Tuberkulose-Epidemie, das Gebaren des Gefängnisdirektors oder die beschriebenen Foltermethoden in den Geheimdienstzentralen wie die Bastonade, der Fliegende Teppich oder auch der Deutsche Stuhl. Diese gängige und äußerst grausame Folter geht vermutlich auf den Nationalsozialisten Alois Brunner zurück, der die syrische Geheimpolizei in Verhör- und Folterpraktiken unterwiesen haben soll.

All dies hat Mustafa Khalifa entweder selbst erlebt oder von Mitgefangenen gehört. Die Geschichte des Protagonisten seines Romans ist, wie der Autor mir erklärte, eine Kombination aus eigenen Erfahrungen und denen eines christlichen Freundes, der tatsächlich acht Jahre lang zusammen mit den Muslimbrüdern in einer Zelle in Tadmor inhaftiert war.

Mustafa Khalifa, 1948 im syrischen Dscharabulus geboren, studierte Jura und schloß sich einer linken oppositionellen Partei an. 1979 wurde er zum ersten Mal verhaftet, aber bereits nach einem Jahr wieder freigelassen. 1981 erfolgte die zweite Verhaftung und schließlich die Überstellung nach Tadmor. Als er 1994 aus dem Gefängnis entlassen wurde, konnte er das Land wegen eines Ausreiseverbots bis 2006 nicht verlassen. Gleich nach Aufhebung des Verbots ging er in die Vereinigten Arabischen Emirate, die er bald ebenfalls verlassen mußte, und lebt heute als politischer Flüchtling in Frankreich.

Als der Roman 2008 bei einem großen libanesischen Verlag auf arabisch erschien, hatte Mustafa Khalifa Syrien bereits verlassen. Der Versuch des Verlags, das Buch auf der Damaszener Buchmesse von 2009 zu präsentieren, scheiterte, denn der Geheimdienst konftszierte sämtliche Exemplare. Der Roman wurde in Syrien verboten und konnte nur durch Raubkopien weiterverbreitet werden.

Auf die Frage, welche Beweggründe ihn zum Schreiben dieses Romans veranlaßt haben, sagte der Autor in einem Interview: »All die Erniedrigung, die wir fünfzehn Jahre lang erlebten, mußte irgendwann explodieren, und zum Glück bestand diese Explosion bei mir im Schreiben eines Romans. […] Bei anderen führte sie zum Suizid. Das habe ich durch die Figur des Nassim darzustellen versucht. Nassim ist jedoch nicht nur eine Romanfigur, sondern er war ein Mensch, mit dem ich zusammengelebt habe. Fünfzehn Jahre hielt er im Gefängnis durch, doch ein paar Tage nach seiner Freilassung brachte er sich um. […] Eine andere Art der Explosion drückt sich im Wahnsinn aus, an dem viele politische Gefangene erkranken.«

Im Roman wird der Ich-Erzähler vor seiner endgültigen Freilassung in das so genannte »Gefängnis in den Bergen« verlegt. Es handelt sich um das Militärgefängnis von Saidnaya, das etwa fünfundzwanzig Kilometer nördlich von Damaskus im Qalamun-Gebirge liegt. Früher einmal tatsächlich, wie im Roman beschrieben, im Vergleich zum Gefängnis von Tadmor ein »Paradies«, ist Saidnaya laut Amnesty International heute ein »menschliches Schlachthaus«. Etwa 13.000 Gefangene sollen dort allein zwischen 2011 und 2015 heimlich hingerichtet worden sein.

Das Gefängnis von Tadmor aber ist Geschichte geworden. Nachdem es nach dem Tod von Hafez al-Assad im Jahr 2000 eher ein Schattendasein gefristet hatte, wurden ab 2011, als das Regime Tausende Aktivisten, Demonstranten und Aufständische verhaftete, erneut politische Gefangene in dem berüchtigten Wüstengefängnis inhaftiert.

2015 aber zerstörte der »Islamische Staat«, der Palmyra 2015 und 2016 eroberte, nicht nur römische Altertümer, sondern aus ungeklärten Gründen auch das Gefängnis – nicht ohne die Gefängnisanlage vorher zu filmen und damit der Öffentlichkeit einige der wenigen Aufnahmen von diesem Ort des Grauens zur Verfügung zu stellen. Für die ehemaligen dort einsitzenden Gefangenen ist dies ein großer Verlust. Viele hätten sich gewünscht, das Gefängnis von Tadmor wäre zu einem Mahnmal und einem Ort des Gedenkens geworden.

(Nachwort des Romans, hier publiziert mit freundlicher Genehmigung des Weidle Verlags – vielen Dank dafür!)

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