Wie wir wurden, wer wir sind – Interview mit Jackie Thomae über ihren Roman “Brüder”

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Wie wir wurden, wer wir sind – Interview mit Jackie Thomae über ihren Roman “Brüder”

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Mit ihrem Roman “Brüder” (Hanser Berlin, Euro 23) hat es die Berliner Schriftstellerin Jackie Thomae als eine von sechs AutorInnen auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geschafft, der am 14. Oktober auf der Buchmesse in Frankfurt vergeben wird. Jackie Thomae erzählt die Geschichte zweier Männer mit einer ganz besonderen Beziehung, eingebettet ins Zeitgeschehen der letzten 30 Jahre, von kurz vor der Wende bis fast in die Gegenwart; mit Blick insbesondere auch auf afrodeutsches Leben in der DDR und danach. Jackie Thomae selbst kam 1972 als Tochter einer DDR-Bürgerin und eines afrikanischen Einwanderers in Halle zur Welt, bis 1989 lebte sie in Leipzig, seitdem in Berlin. Nach “Momente der Klarheit”, erschienen 2015, ist “Brüder” ihr zweiter Roman.

Wer sind die beiden?

Die beiden sind Halbbrüder, Söhne des gleichen Vaters – brother from another mother – könnten sie sich nennen, würden sie sich kennen. Aber ich erzähle ihre Leben einzeln, denn sie wachsen als Einzelkinder auf. Unter äußerlich ähnlichen Voraussetzungen, denn der schwarze Vater ist nicht anwesend und sie bleiben bei der weißen, der deutschen Familie. Doch das heißt ganz und gar nicht, dass sie sich in ihrem Wesen ähneln, im Gegenteil. Ich erzähle zwei komplett unterschiedliche Männerbiografien.

Weißt Du noch, wie und warum Du auf diese Idee gestoßen bist?

Mein erster Roman „Momente der Klarheit“ ist ein Episodenroman, bei dem ich viel Lob für die Männerperspektiven bekommen habe. Auch und insbesondere von Männern. Ich hatte also die Idee, wieder Männerfiguren zu entwickeln und es passte auch, dass auf diese Art noch deutlicher wird, dass es sich bei “Brüder” nicht um ein Memoir handelt.

Ähnliche Voraussetzungen – aus denen zwei ziemlich unterschiedliche Persönlichkeiten wachsen. Was hat Dich daran interessiert?

Ich bin in einem Alter, in dem man sich anders fragt, wie man an dem Punkt gelangt ist, an dem man sich gerade befindet als vorher. Das Gefühl, alles noch vor sich zu haben, dürfte sich endgültig verflüchtigt haben und es kommt diese Stimmung auf, die die Talking Heads mal so schön besungen haben: And you may ask yourself, well, how did I get here? Ein Songtext, den ich erst richtig begriffen habe, als ich selbst vor dieser Frage stand. Wollte ich das alles so? Waren es die Umstände, mein Wohnort, meine Begleiter, mein Wesen? Was wäre aus mir geworden, wenn ich an bestimmten Weggabelungen andere Entscheidungen getroffen hätte? Mit den Brüdern konnte zwei Parallelwege beschreiben, die sich dann mit Ende Vierzig kreuzen. Wie wir zu den Menschen werden, die wir in der Mitte unseres Lebens sind – ist ja dann auch zum Motto des Romans geworden.

Was bedeutet es eigentlich für Mick und was bedeutet es für Gabriel, dass ihr Vater ein „Afrikaner“ in der DDR ist?

Sie sind die Kinder eines gemischten Paares, das ist auf den ersten Blick erkennbar. Zuerst in Ostberlin und in Leipzig, später bei Mick auch in West-Berlin, sind sie nicht die Einzigen, aber auch nicht Teil einer größeren Gruppe. Das hat den Vorteil, dass man sie nicht in eine kollektive Schublade einordnen kann und macht sie andererseits zu Außenseitern – wenn sie es denn so empfinden. Mick hat die natürliche Gabe, sich unter anderen Menschen wohlzufühlen, während Gabriel ein Einzelgänger ist. Offen versus misstrauisch – sind diese Eigenschaften eine Reaktion auf ihren Sonderstatus oder ist es, ganz unabhängig davon, ihr Charakter? Das sind die Fragen, die ich mir während des Schreibens an diesem Roman gestellt habe.

Zwei Männer als Helden einer Frau – wie hat das funktioniert für Dich?

Männer und Frauen sind nicht so verschieden, ich muss mich nicht auf fremdes Gefühlsterrain bewegen, um einen Mann zu verstehen. Ich muss eher darauf achten, wo die Außenwelt andere Anforderungen an Männer stellt als an Frauen. Selbst ein Mann wie Mick, der meint, sich Konventionen entziehen zu können, steht irgendwann vor der Frage, was er eigentlich „zu bieten“ hat, und zwar in dem Moment, in dem er von seiner Langzeitfreundin verlassen wird. Durch die Frauenfiguren, die ja viel Raum einnehmen, habe ich die Männer noch besser verstehen gelernt.

Welcher von beiden ist Dir eigentlich näher?

Wie im wirklichen Leben kommt man dem näher, mit dem man sich gerade befasst, weil man ihm zuhört und weil man ihn in dem Moment verstehen will. Gabriel ist ein Mann, der sich nur einem sehr kleinen Kreis anderer Menschen öffnet. Ich wusste, wenn ich konsequent sein will, muss ich ihm diese Verschlossenheit lassen. So kam seine Frau Fleur als eigene Erzählstimme im Roman ins Spiel. Mick hingegen ist extrovertierter, aber auch nicht immer bei sich, sondern draußen in der Welt und bei den anderen. Ihn kannte ich am Anfang besser, habe ihm eine wohlwollende, teils auch leicht ironische Erzählstimme gegeben, denn ihn begleiten wir durch die Neunziger. Und jetzt, nach dieser langen Zeit mit den beiden, sind sie mir beide gleich nah.

Wie schwierig war es, Distanz zwischen Autorin und Charakteren zu bewahren? Oder war das gar nicht nötig?

Nähe und Distanz prägen den Sound der Geschichte. Es sind die Elemente im Roman, die sich organisch lesen, denen aber Entscheidungen vorangegangen sind. Dazu gehören die Erzählperspektiven, dazu gehört aber auch die Frage, welche Position man als Erzähler bezieht. Ich bewerte zum Beispiel nicht, damit habe ich unbewusst begonnen und es dann zum Stilmittel gemacht. Meine Position ähnelt damit fast der eines Therapeuten. So kann ich herausfinden warum die Figuren so reagieren wie sie reagieren, sage nicht richtig oder falsch, sondern viel mehr: Aha, interessant.

Inwiefern ist „Brüder“ eigentlich – trotz aller „Geschlechterdifferenz“ ein autobiographischer Roman?

Wie gesagt: Keiner der beiden bin ich in einer männlichen Version. So einfach ist das nicht. Ich arbeite mit Erinnerungen, wie haben sich die Achtziger und Neunziger angefühlt, und so weiter. Und ich arbeite mit Charakteren, die natürlich fiktional sind, die aber für etwas stehen. So erzählt Idris, der Vater, die Geschichte, wie es sich anfühlte, Ende der Sechziger aus Afrika nach Europa und in den Ostblock zu kommen, Monika, Micks Mutter, erzählt, wie es sich anfühlte, sehr jung allein ein Kind zu bekommen und Gabriels Großvater ist ein Mann, der 1915 geboren wurde und in der DDR versucht, seinen Status als selbstständiger Unternehmer aufrecht zu erhalten, der in der DDR ein Übergangslösung sieht, weil er schon so vieles hat kommen und wieder verschwinden sehen.

Du bist selbst als „Afrodeutsche“ in der DDR groß geworden. Wie war das – und wie schaust Du 30 Jahre nach der Wende zurück auf das verschwundene Land?

Ich selbst gehörte zu denen, die unter keinen Umständen in einem Land bleiben wollten, das sie gängelt und einsperrt, die Vorstellung, dort nicht raus zu dürfen, erschien mir geradezu absurd. An dieser Stelle habe ich mich als Ausländer gefühlt, als jemand, der zu Unrecht dort festsitzt. Was genau genommen totaler Quatsch war, denn die anderen saßen genauso zu Unrecht dort fest und haben das größtenteils auch so empfunden. Das verschwundene Land hatte aber nicht nur diese offizielle Seite, sondern auch eine private. Eine Welt, in der sich die Leute Nischen suchten, in der sie glücklich waren, kreativ und lustig.
Was jetzt bleibt, sind nur Schlaglichter – erfolgreiche Bücher, Filme und Serien konservieren jetzt das Bild dieses Landes. Und dieses Bild ist natürlich viel eindimensionaler als das Bild der alten Bundesrepublik. Schon allein deshalb, weil kaum eine Geschichte ohne die Stasi auskommt und auch, weil man die Darsteller in alte Ostklamotten steckt, die aus heutiger Sicht zwangsläufig blöd aussehen.

Und die Zeit nach der Wende?

Die fiel bei mir mit dem tatsächlichen Erwachsenwerden zusammen. Ich habe mir mit Berlin einen Sonderfall als Wohnort ausgesucht und das nie bereut. Sonderfälle scheinen mein Ding zu sein.

Damals war die Stimmung etwas, sagen wir, ausgelassener als heute, oder?

Für diejenigen, die dem Chaos kreativ begegnen konnten auf jeden Fall, für andere war der Umbruch bekanntlich schmerzlicher. Aber Berlin verströmte das Gefühl, alles wäre möglich, ein Gefühl, das natürlich auch immer altersbedingt ist.

Zuletzt hörte und las man mehr von Übergriffen gegenüber Schwarzen und Migranten – nicht erst in der Wendezeit, sondern auch schon in der DDR. Wie sind Deine Erfahrungen?

Es macht einen Unterschied, ob man wirklich aus einem anderen Land kommt, die Sprache erlernen und sich zurechtfinden muss, oder ob man in diesem Land und auch in eine weiße Familie hineingeboren wurde. Auch der Umstand, dass die Leute in der DDR von vorn herein einen begrenzten Aufenthalt hatten, dass nie geplant war, dass sie sich niederlassen – und das gilt nicht nur für Studenten, auch für Vertragsarbeiter, beispielsweise aus Vietnam, hat dazu geführt, dass sie häufig nicht mit diesem Land und seinen Leuten warm werden konnten. Sie blieben unter sich, lebten in einer Diskrepanz zwischen sozialistischen Bruderreden und einem Alltag, in dem sie die Fremden waren. Das heißt nicht, dass es per se keine netten Verbindungen gab. Aber es gab eben auch nicht das, was man heute „Diversität“ nennen würde. Trotzdem gehörten Leute, die nicht Deutsch aussahen in den großen Städten zum Stadtbild, wenn auch in kleineren Gruppen, wenn auch nicht mit eigenen Geschäften und Restaurants.

Zugleich ist es heute ja viel normaler und selbstverständlicher, dass es auch schwarze Deutsche gibt. Oder ist das ne Illusion von einem, der das Problem nicht hat?

Ich glaube, es wundert sich niemand mehr, wenn Leute, die nicht Deutsch aussehen akzentfrei Deutsch sprechen. Als ich klein war, war ich an bestimmten Orten noch das, was es heute, in der globalisierten Welt nicht mehr gibt, was man „exotisch“ nennen würde. Meine Romanfigur Gabriel hat deshalb eine Art Phobie der Provinz gegenüber entwickelt, während ihm seine Frau sagt, dass man auf Dörfern einfach jeden anglotzt, den man nicht kennt. Und natürlich wirkt das hinterwäldlerisch, aber es besteht ein großer Unterschied zwischen anstaunen und anfeinden. Wie gesagt, ersteres ist fast völlig verschwunden, während letzteres weiter existiert. Leider.

Wir erleben in letzter Zeit wieder mehr – sichtbaren – Rassismus. Zugleich aber auch ein stärkeres Bewusstsein dafür, was Rassismus ist. Darüber gibt’s ja auch heftige Diskurse. Wie schaust Du denn auf diese Debatten?

Anfang des Jahres habe ich einen Cartoon im New Yorker gesehen, ein UFO verlässt die Erde und in der Sprechblase steht: The food was okay, but the atmosphere was shit. Stimmt, dachte ich, das ist gerade die Stimmungslage auf diesem Planeten. Andererseits: War die Stimmung je besser? Spiegelt der tägliche Orkan an Meldungen und Meinungen auch die tatsächliche Stimmung wieder, die im täglichen Umgang zwischen Menschen herrscht? Auch wird die Rassismus-Debatte von den USA dominiert. Es ist das größte Land, das alle Kriterien für diese Debatte erfüllt und es ist das mit Abstand lauteste. Die momentane Lautstärke mag an einigen Stellen berechtigt sein, übertönt aber auch diejenigen, die sich nicht daran beteiligen. Diejenigen, für die es selbstverständlich ist, dass man anständig mit seinem Mitmenschen umgeht, egal woher sie kommen.

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