Was bedeutet es, in einer anderen Sprache zu schreiben, nicht in der “Muttersprache”? Was ist schwierig – wo ist demgegenüber sprachlicher Profit zu erwarten? Denn es hat ja auch gewisse Vorteile, mit der Sprache nicht von Kindheit an vertraut zu sein; eine Distanz, die Aufmerksamkeit schafft, einen ganz anderen Blick auf das gesprochene Wort ermöglicht. Und natürlich: auf das Geschriebene. Yoko Tawada, geboren 1962, lebt seit den 1980er Jahren in Deutschland. Sie studierte Literaturwissenschaft, promovierte – und fand übers wissenschaftliche Schreiben zur Lust, literarisch nicht bloß auf Japanisch, sondern auch auf Deutsch zu schreiben, wie sie bei den litprom-Literturtagen 2020 erzählte. Heute ist sie in beiden Sprachen aktiv, das hängt vom Stoff und von den Umständen ab. Yoko Tawada schreibt Romane, Geschichten, Essays, Gedichte und, und, und. Ihre auf Deutsch verfassten Texte sind sehr oft auch Untersuchungen der Sprache, die sie da verwendet – und sowieso auch Erkundungen in Sachen “Migration”. Dann zum Beispiel, wenn es um den “Akzent” geht. (Der Text stammt aus dem Band “akzentfrei”, erschienen 2017 im konkursbuch Verlag, Euro 12. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags, herzlichen Dank dafür.)
Yoko Tawada: Akzent
Der Akzent ist das Gesicht der gesprochenen Sprache. Seine Augen glänzen wie der Baikalsee oder wie das Schwarze Meer oder wie ein anderes Wasser, je nachdem, wer gerade spricht.
Die Augen meiner Sprache enthalten Wasser aus dem Pazifik, wo zahlreiche Vokale als Inseln schwimmen. Ohne sie würde ich ertrinken.
Die deutsche Sprache bietet mir nicht genug Vokale. „Lufthansa“ spreche ich „Lufutohansa“ aus, damit fast jeder Konsonant mit einem Vokal versorgt ist. Wo soll ich sonst hin mit meinen Gefühlen, die nur in den Vokalen zu Hause sind?
Wie würde die Welt aussehen, wenn es nur Konsonanten gäbe? Sprechen Sie einfach „k“ oder „g“ aus, und achten Sie darauf, wie sie auf Ihren Körper wirken! Sie klingen für mich nach einer Ablehnung, einer Abgrenzung oder nach einer leise gesprochenen Ausrede. Es ist mir unangenehm, und ich versuche deshalb, diese Laute mit wenig Druck auszusprechen, und nehme es in Kauf, dass mein japanischer Akzent dadurch verstärkt wird. Auch die expulsiven Konsonanten „p“ und „b“ bereiten mir Kopfschmerzen. Sie klingen verärgert, verachtend und abweisend. Ich ziehe es vor, beim Aussprechen dieser Konsonanten die Luft nach innen zu ziehen, damit sie nicht zu heftig explodieren.
Es gibt auch sanftere Konsonanten. Das heißt aber nicht, dass ich sie ohne meinen Akzent aussprechen könnte. Die Konsonanten „r“ und „l“ zum Beispiel bringe ich durcheinander. Sie sind für mich eineiige Zwillingsschwestern. Hier einige Übungen für einen besseren Umgang mit ihrer Verwechselbarkeit: „Durch das lustvolle Wandern in der Natur wandelt Herr Müller seine Gesinnung.“ – „Der Rücken eines Ponys ist niedrig und deshalb niedlich. Wäre er doppelt so hoch, wäre er halb so niedlich.“ – „Kein Bücherregal ist illegal, egal welche Bücher da stehen, genauso wie kein Mensch illegal ist, selbst wenn er mit einem Akzent spricht.“
Der Akzent bringt unerwartet zwei Wörter zusammen, die normalerweise nicht ähnlich klingen. In meinem Akzent hören sich die „Zelle“ und die „Seele“ ähnlich an.
Es ist nicht meine Aufgabe, eine regionale Färbung, einen ausländischen Akzent, einen Soziolekt und einen Sprachfehler medizinischer Art voneinander zu unterscheiden. Stattdessen schlage ich vor, jede Abweichung als eine Chance für die Poesie wahrzunehmen.
Es kommt mir komisch vor, dass ich von einer „Abweichung“ spreche, denn ich bin nicht sicher, ob es überhaupt den „Standard“ gibt. Im Sprachunterricht in Japan habe ich gelernt, dass das reinste Hochdeutsch in Hannover zu finden sei, und zwar auf einer Theaterbühne und nicht irgendwo auf der Straße. Aber es gibt keinen Menschen, der in einem Hannoveraner Theater geboren wurde und nie das Theatergebäude verlassen hat. Also gibt es keinen Menschen ohne Akzent, so wie es keinen Menschen ohne Falten im Gesicht gibt. Der Akzent ist das Gesicht der gesprochenen Sprache, und ihre Falten um die Augen und in der Stirn zeichnen jede Sekunde eine neue Landschaft. Der Sprecher hat all diese fernen Landschaften durchlebt, mitgeprägt, vertont, mitgestaltet, ernährt, unterstützt, vielleicht auch zerstört, und das zeigt sich in seiner Aussprache. Sein Akzent ist seine Autobiografie, die rückwirkend in die neue Sprache hineingeschrieben wird.
Der Akzent ist eine großzügige Einladung zu einer Reise in die geografische und kulturelle Ferne. In einer modernen Großstadt muss man stets darauf gefasst sein, mitten in der Mittagspause auf eine Weltreise geschickt zu werden. Eine Kellnerin öffnet ihren Mund, schon bin ich unterwegs nach Moskau, nach Paris oder nach Istanbul. Die Mundhöhle der Kellnerin ist der Nachthimmel, darunter liegt ihre Zunge, die den eurasischen Kontinent verkörpert. Ihr Atemzug ist der Orient-Express. Ich steige ein.
Wer mit Akzent spricht, fühlt sich zu Hause. Der Akzent ist seine Eigentumswohnung im wahren Sinne des Wortes, denn er ist sein Eigentum, das ihm selbst in der Zeit der Wirtschaftskrise nicht abhandenkommt. Er trägt ihn immer mit sich im Mund und kann somit immer in den eigenen vier Wänden gemütlich seine Fremdsprache sprechen.
Gäbe es keinen Akzent mehr, bestünde die Gefahr, dass man schnell vergisst, wie unterschiedlich die Menschen sind.
Der Akzent gibt den Menschen auch Mut, denn er ist ein lebender Beweis dafür, dass auch ein Erwachsener noch eine ganz exotische Sprache lernen kann. Hätte er sie schon als kleines Kind gelernt, hätte er keinen Akzent. Auch im hohen Alter können wir unseren Gaumen erweitern, uns neue fiktive Zähne wachsen lassen, die Muskeln des Mundwerkes trainieren, mehr Speichel produzieren und unsere Gehirnzellen durchkneten und durchlüften. Das Ziel der Sprachlernenden ist nicht, sich dem Zielort anzupassen. Man kann immer wieder eine neue Sprache lernen und die alten Sprachen als Akzent beibehalten.
Wer keinen Akzent hat und nicht fremd aussieht, aber aus der Ferne kommt, hat es schwer. Die Tochter meiner deutschen Bekannten zum Beispiel, die in den USA geboren und aufgewachsen ist, hatte Angst, in Deutschland zum Postamt zu gehen. Denn sie hat gar keinen Akzent, wenn sie deutsch spricht, aber sie versteht nur noch Bahnhof, wenn der Postangestellte von „Einschreiben“, „Nachnahme“ oder „unfrei“ spricht. Hätte sie einen Akzent, würde man ihr verständnisvoll in Ruhe diese Wörter erklären. Aber sie hat leider gar keinen Akzent. Sie sagte mir, man würde denken, sie sei nicht ganz „dicht“.
Es kann für mehrsprachige Dichterinnen und Dichter ein Vorteil sein, wenn die Wände in ihrem Gehirn „nicht ganz dicht“ sind. Durch die undichte Wand sickert der Klang einer Sprache in eine andere hinein und erzeugt eine atonale Musik.
Wollen wir heute Abend Fondue essen oder lieber Couscous? Das luxuriöse Problem des modernen Großstadtlebens, das man „die Qual der Wahl“ nennt, kann man mit dem Einsatz des Akzentes schnell lösen. Wer mit Akzent spricht, kann mehr als eine Sprache gleichzeitig auf die Zunge legen. Ein Schweizerdeutsch mit arabischem Akzent kann zum Beispiel ein kulinarischer Ohrenschmaus sein. Es ist nicht mehr notwendig, sich für das Fondue oder für den Couscous zu entscheiden.
Es gibt Menschen, die einen Sprecher mit Akzent unbewusst abwerten. Kaum hören sie einen fremden Sprachklang, schon werden in ihnen Hormone ausgeschüttet, die als Gefahrensignal ihre Gehirnzellen erreichen. Ich weiß nicht, ob diese Gene aus der Steinzeit stammen oder durch die modernen Massenmedien manipuliert sind. Dabei ist die Geschichte voll von positiven Erfahrungen mit fremdländischen Akzenten. Ohne Menschen mit niederländischem Akzent wäre zum Beispiel die deutsche Hauptstadt heute noch ein Sumpf.
Es kann sonnig, musikalisch, befreiend und spannend klingen, wenn jemand „süßländisch“ spricht, aber wenn er deshalb keinen Job bekommt, ist seine Stimme bald nicht mehr zu hören. Ist es nicht nachteilig, wenn seine Sprache „mafi-asiatisch“ oder „ka-osmanisch“ klingt, wenn ein Jugendlicher bei der Polizei verhört wird?
Man spricht heutzutage vom „Migrationshintergrund“, als wäre etwas Abgründiges grundsätzlich hinter dem Rücken versteckt. Der Akzent ist der Vordergrund der Migration.
Auch die einheimischen Zungen sprechen mit unterschiedlichem Akzent. Manche versuchen, ihn zu tilgen. Sonst hört man die peinlichen Lebensbedingungen, in denen sie aufgewachsen sind. Und welche Bedingung ist schon nicht peinlich? Ein Münchner hat einen Vater, der durch sein gnadenloses Bankgeschäft immer reicher wird, und das ist für seinen Sohn, der Literatur studiert, äußerst peinlich. Eine Frau in Düsseldorf hatte eine Mutter, die aus der Provinz stammte, also nicht aus Düsseldorf, sondern aus einem richtigen Dorf, und das fand die Tochter peinlich. Zu Unrecht. Aber man kann ihr nicht durch eine Moralpredigt ihr Schamgefühl nehmen.
Zum Glück schaffen wir es nie, ganz ohne jeden Akzent zu sprechen. Sonst würde unsere Sprache farblos, angepasst, uninteressant, verklemmt, steif, ängstlich, monoton oder kalt klingen. Sie wäre dann nur noch ein verfaulter Überrest von dem, was die gesprochene Sprache sein kann.
Und hier beim konkursbuch Verlag Claudia Gehrke gibt es weitere Informationen zu Yoko Tawada …