Zwei (Hör-) Bücher, die davon erzählen, was für Folgen es haben kann, wenn Menschen flüchten müssen: „Austerlitz“ von W.G. Sebald (der Hörverlag, Euro 20,99) und „Nach der Flucht“ von Ilija Trojanow (Buch bei S. Fischer, Hörbuch bei Argon, jeweils Euro 15)
W.G. Sebald: Austerlitz
Eine Zufallsbegegnung: Im Wartesaal des Bahnhofs Antwerpen Central beobachtet der Erzähler von W.G. Selbalds „Austerlitz“ einen Mann, der die Architektur dort studiert, und völlig versunken. Die beiden kommen ins Gespräch, sie mögen sich, irgendwie – und sie werden einander fortan immer wieder treffen: an verschiedenen Orten Europas, mal zufällig, mal geplant, über Jahrzehnte hinweg. Der Mann heißt Jaques Austerlitz, und er hat eine ganz besondere Lebensgeschichte, was auch sein Faible für Bahnhofsarchitekturen erklären könnte: Mit einem Kindertransport kam er während der NS-Zeit aus Prag nach Großbritannien, wuchs in Wales bei einem bigotten Predigerpaar auf, erfuhr erst als Jugendlicher, dass er nicht der leibliche Sohn dieses Paares ist, sondern ein anderer – eben Jaques Austerlitz. Über seine Eltern, über seine wahre Herkunft weiß man nichts, und so macht Austerlitz sich auf die Suche, die ein Leben lang anhalten und nur bedingt Ergebnisse bringen wird…
W.G. Sebald stammte aus den Allgäuer Bergen, studierte in England, blieb anschließend dort, 2001 starb er, erst 57jährig, bei einem Verkehrsunfall. Hierzulande war er nur mäßig bekannt, in England und in den USA galt er als einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller der deutschen Literatur. „Austerlitz“ ist der letzte Roman, den Sebald fertig stellen und dessen Veröffentlichung er miterleben konnte, eine Hörbuchfassung gab es bislang nicht. Das wird mit dieser neuen Edition nachgeholt, und zwar eingesprochen von dem ehemaligen Verleger Michael Krüger, der mit W.G. Sebald befreundet war. Krüger ist zwar kein Profi-Sprecher, das merkt man deutlich, trotzdem passt genau diese Art der Interpretation von Sebalds Text bestens – weil Krügers Darstellung und Stimme der Geschichte, die ziemlich abstrakt ist, eine etwas persönlichere Note gibt.
Ilija Trojanow: Nach der Flucht
Was bedeutet es eigentlich, geflüchtet zu sein? Wie verändert es das Denken, das Fühlen, ein Geflüchteter zu sein, was sind die Auswirkungen einer Flucht auf die Frage der Identität? „Die Flucht rechtfertigt sich selbst, das Leben danach stellt immer wieder neue Fragen“, schreibt Ilija Trojanow. Und: „Nichts an der Flucht ist flüchtig. Sie stülpt sich über das Leben und gibt es nie wieder frei.“ Plus: „Stets wird der Geflüchtete vorgestellt als einer, der eins von woanders kam. Der spät in einer Winternacht in den Gasthof trat. Der nicht eingeladen war. Ein Mündel, dem ein Teller Suppe vorgesetzt wurde, weil es sich so ziemt. Egal, wie viele Jahre seit seiner Flucht vergangen sind, die Einheimischen kennzeichnen ihn als jemanden, der etwas Existentielles nicht mit ihnen teilt.“
Die ersten drei von 198 Skizzen, Gedanken, Anekdoten und Aphorismen, kurze und kürzeste Texte, mit denen Ilija Trojanow dem Phänomen Flucht in seinem aktuellen Buch/Hörbuch nachspürt, und zwar aufgeteilt in zwei Abschnitte: 99 der Texte in „Nach der Flucht“ beschrieben die eher problematischen Folgen, die eine Flucht haben kann – die anderen 99 schauen auf die Vorteile, die es auch geben kann. Also zum Beispiel die Tatsache, dass man immer beweglich bleibt; dass man, wenn´s gut geht, in zwei Sprachen zu Hause sein kann uswusf. Gelesen werden die Texte von Trojanow selbst, und zwar auf eine wirklich berührende Art und Weise, das klingt freundlich, gelassen, genau und zugleich eine Spur melancholisch. Was daher rühren könnte, dass „die Flucht“ auch im Leben dieses Autors selbst ein wichtiges und prägendes Moment war: Ilija Trojanow kam 1965 in Sofia/Bulgarien zur Welt, 1971 flüchtete die Familie in die BRD, von dort aus ging es bald weiter nach Kenia, wo Trojanow weite Teile seiner Kindheit und Jugend verbrachte. Nach Jahren in Indien und Südafrika lebt er heute vorwiegend in Wien – und ist einer der interessantesten und vielfältigsten Schriftsteller der mittleren Generation, das belegt auch dieses spannende Projekt.