“Ragged Lake”, der Debütroman des Kanadiers Ron Corbett, ist ein exzellenter, flirrender Noir – und ein packender Abenteuerroman zugleich. Eines der Bücher, bei denen es extrem bedauerlich wäre, wenn sie wegen der Corona-Krise untergingen und in Vergessenheit gerieten. Im Folgenden – mit freundlicher Genehmigung des Polar Verlags – der Text des Nachwortes, das ich zu dem Roman geschrieben habe. Hier findet sich außerdem ein Interview mit Ron Corbett.
Wer von „Preisgegeben“ spricht, der darf vom Sander vitreus nicht schweigen: Auch der Glasaugenbarsch spielt seine Rolle in diesem grandiosen Roman, immer wieder einmal taucht er auf in der Erzählung, wie es scheint, im Kontext wichtiger Momente, als Zeichen eines Augenblicks, der noch Bedeutung haben wird. Ein Zufall? Wohl kaum, denn dieser Noir ist von vorne bis hinten, von unten nach oben, von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück ausgesprochen smart und trickreich durchdacht und gearbeitet.
Der Glasaugenbarsch also, im Amerikanischen „wall-eye“ – ist ein Raubfisch, vor allem schwächere Lebewesen frisst, Fische, aber auch Schnecken, Lurche, kleine Säugetiere. Hauptvorkommen: Nordamerika, Kanada. Seinen Namen verdankt er dem glasig erscheinenden Blick seiner Augen: Ihre Netzhaut verfügt über eine das Licht reflektierende Schicht, was den Glasaugenbarsch im Dämmrigen, im Dunkeln besser sehen und jagen und töten lässt.
Ein Blick ins Schwarze: Vieles, wenn nicht gar alles, was in diesem Roman „Preisgegeben“ wichtig ist, liegt in irgendeiner Form im Dunkeln: Das Leben in dem gleichnamigen Ort ist weitgehend ausgestorben, die wahre Identität vieler Protagonisten verborgen, die Interessen sind häufig unklar, selbst der Schnee sorgt im aufziehenden Sturm letztlich für Verdunkelung. Was schlummert hinter den Wänden der Häuser, deren Fenster kein Licht erleuchtet? Ragged Lake, dieser fiktive Ort irgendwo im Nirgendwo, ist das Düsterste dadurch, dass er zur Bühne wird für die Verdunkelten, die dort zusammentreffen und um Leben und Tod zu kämpfen haben.
Vor allem aber konzentriert sich das Dunkle um die Vergangenheit der Squatter-Familie, die jemand gnadenlos aus dem Leben gemetzelt hat; das Ereignis, das alle andere Handlung in Gang bringt. Die Initialzündung dieses Romans. Es muss ja einen Grund geben für diesen Dreifachmord, nicht einmal für die zweijährige Tochter ließ man Gnade walten. Wer tut so etwas, und warum? Und mehr noch, angesichts der Umstände in dieser unwirtlichen Gegend nahe der nordmerikanisch-kanadischen Wasserscheide: Wer nimmt es auf sich, den schweren Weg zu gehen, um den Ort, an dem die Drei in einer einfachen Hütte lebten, zum Tatort zu machen? Warum, andererseits, lebten sie ausgerechnet dort, unter widrigsten Umständen? Weit weg von allem, sozusagen am Rand des Irgendwos im Nirgendwo; da, wo noch nicht einmal mehr die Angler hin finden, weil in der Gegend kaum Glasaugenbarsche zu fischen sind, die Tour würde nicht lohnen. Genau deshalb hat es die Familie wohl hierhin verschlagen, so zeigt sich – die Eltern wollten alles hinter sich lassen, die tiefen Dunkelheiten, die so verschiedenen schwarzen Löcher, die ihre Leben prägten.
Und hier muss Detective Frank Yakubuski von der Springfield Regional Police, selbst ein Mann mit Schatten und Dämonen in der Seele, mit seiner Recherche ansetzen, wenn er den Fall aufklären will. Sofern er überhaupt eine Chance haben wird, irgend etwas ans Licht zu bringen. Die Frage ist nämlich: ob er genügend Zeit dafür haben wird. Denn die Finstersten sind längst auf dem Weg ins ansonsten sturmbedingt von der Umwelt abgeschlossene Ragged Lake, und sie sind grimm entschlossen, alles Leben dort zu tilgen. Exakter: Alles menschliche Leben. Denn solches Leben könnte Zeugnis ablegen vom Wirken dieser Finstersten, von ihrem Tun im Dunkeln, und ein solches Wissen und Belegen ist keinesfalls erwünscht. Aufklärung? Der Stärkere wird gewinnen, ein eherner Kampf auf Leben und Tod, Verluste werden nicht gemacht. Die entscheidende Frage ist halt, zumindest für Yakabuski: Ist es in dieser menschlichen Wildnis stark genug, der Schlauere zu sein?
„Preisgegeben“ ist, so viel kann man konstatieren, ein astreiner, also wirklich tiefschwarzer Noir: Es gibt keine Hoffnung, für fast niemanden; auch, wenn der eine oder die andere möglicherweise überleben wird. Warum? Weil der Mensch der Mensch ist, der dem Menschen das antut, was der Mensch dem Menschen antut – wenn er es kann, weil er es kann. Das war so, das ist so, das wird immer so sein. Dagegen kann man nur wenig ausrichten, zumindest in der Arena von Ragged Lake, außer das Dunkle kommt doch einmal ans Licht, so dass man es bekämpfen und beleuchten kann. So wie es bei dem Mord an der Squatter-Familie der Fall war.
Frank Yakubuski, genannt Yak, dieser kantige kanadische Polizist mit polnischen Wurzeln ist eine faszinierende neue Ermittlerfigur im internationalen Krimikosmos, er wird bleiben, schließlich befinden wir uns am Beginn einer Reihe; einige horizontale Linien sind im Narrativ angelegt, man ist schon jetzt gespannt, wie es tatsächlich weitergehen wird mit ihm. Yakabuski ist stark – die wichtigste Figur dieses Roman ist allerdings Cassandra, die kleine Tochter massakrierten Familie: Sie hatte nur zwei Jahre, an der Seite ihrer Eltern, draußen in der Wildnis, weit weg von allem und von allen. Wir wissen nichts von ihr und ihrem Leben. Aber es ist klar, dass es doch nur leuchtend und hell und licht gewesen sein kann. Sie hatte keine Gelegenheit, das Dunkle kennen zu lernen – bis es ihr Leben beendete. Eine tragische Heldin dieses Noirs, wenn man so will, denn, wie gesagt: Der wahre Noir kennt keine Hoffnung, für niemanden. Oder wie sollte es nach solch einer Lebensgeschichte überhaupt noch irgendwelche Hoffnung geben können? Und von welchen Dämonen wird der getrieben, der so etwas tut? Einen entscheidenden Hinweis bekommt Yak durch ein Bild; direkt daneben hängt übrigens das eines Glasaugenbarschs.
„Preisgegeben“ ist ein Noir, der aus der kanadischen Provinz in die Welt führt und zurück, gemeinsamer Nennen ist: die Gewalt. Sie ist immer da, wo Menschen auf Menschen treffen. Auch im Bosnienkrieg und in Afghanistan, wo der Roman auf so wundersame wie schlüssige Weise ebenfalls angesiedelt ist. Und natürlich in den Metropolen, klar, da wo das Verbrechen die Nacht regiert, Yakabuski weiß davon zu berichten. John Holly, einer, der sich für die falsche Seite entschieden hat, darf dazu im Auftrag von Ron Corbett ein paar Worte zu ihm sagen: „Ich bin immer wieder verblüfft, wie wenig die Leute von ihrer eigenen Vergangenheit wissen. Auf dem Gipfel von Mount Royal liegt das Herz eines Jesuiten, den die Irokesen gefoltert und gevierteilt haben. Wir selbst haben die Beothuk ausgerottet. Wie kann´s da sein, dass irgendwer in diesem Land sich über Gewalt wundert? Das hab ich nie kapiert. Vielleicht ist es in Grenzländern üblich auszublenden, wer man wirklich ist, wo man wirklich herkommt. Lieber hält man sein Haus immer hübsch sauber, wäscht seine Hände in Unschuld. Mit der Psychologie, die dahintersteckt, hab ich mich nie befasst, aber ich wär nicht überrascht, wenn es so wäre.“ Was John Holly nicht weiß: Lange hat er in diesem Moment nicht mehr zu leben, zurecht.
Eine Studie menschlicher Gewalt und ihrer Wirkungen also – und damit verbunden verhandelt „Preisgegeben“ ein zweites zentrales Thema: Wem gehört das Land? Eine Frage, die sich durch alle möglichen Sphären der Geschichte zieht. Einst war es das Land der indigenen Bevölkerung, die nun ein Schattendasein zu führen gezwungen ist. Dann kam die Kolonisierung, damit verbunden die Industrialisierung, hier, in Ragged Lake, vor allem durch die Papierindustrie. Diese Wohlstandsquelle versiegte, es ist unsicher, ob sie wiederkehren wird. Dafür haben sich ganz andere Kapitalisten angesiedelt, die des organisierten Verbrechens. Rocker für die dumpfen Jobs, Drogenkartellisten fürs Unternehmerische darüber. Das Ganze – natürlich – im Dunkeln; wenn sie ans Licht gezwungen werden, wird’s brandgefährlich. Und wem gehört nun das Land? Denen, die es sich genommen, denen die das Sagen haben, nicht bloß notfalls mit Gewalt. Der Staat? Na ja. Und die getötete Familie: Squatter sind Siedler, die sich ohne Rechte auf unbebautem Land von anderen niederlassen. Dem Land, das einst allen gehörte. Im besten Fall werden sie geduldet, im schlechteren Fall verschwinden sie im Nirwana; so begann dieser Roman, und insofern wohnt dieser Landnahme in „Preisgegeben“ sicher kein utopisches Moment inne.
Wie Ron Corbett all diese Dimensionen, Momente und Aspekte über seine Charaktere und ihre Geschichten, über ihre Handlungen in eine Story verzahnt, das ist extrem beeindruckend: Klasse Charaktere, tolle Choreographie, großartiges Spannungsmanagement. „Preisgegeben“ ist ein wahrer Action-Roman, im Prinzip ein einziger Showdown, zugleich nimmt sich der Erzähler immer wieder Zeit und Raum, in die Geschichten einzutauchen, die die Geschichte samt ihrer Themen ausmachen; das ist exzellent montiert, der Rhythmus zwischen Laut und Leise, zwischen Hektik und Ruhe, zwischen Aktion und Reflexion ist perfekt getimt.
Grandios ist natürlich auch die Art und Weise, wie die Natur ihre Rolle in diesem Roman inne hat, wie Ron Corbett sie in seine Erzählung von der Natur des Menschen integriert: „Preisgegeben“ ist kein Country Noir, sondern ein Nature Noir, wenn man so will, Nature Writing auf einen entscheidenden Punkt fokussiert: Den Überlebenskampf einer Kreatur, die glaubt, etwas Besonderes zu sein, sich unterm dünnen Firniss der Zivilisation letztlich von anderen Tieren aber bloß bedingt unterscheidet. Zumindest von den Raubtieren.
Ein Traum von einem Genreroman, könnte man also sagen – wäre „Preisgegeben“ nicht so ein Alptraum. Wobei: Natürlich gibt es am Ende dann doch ein wenig Hoffnung, irgendwie, eine kleine Liebesgeschichte zum Beispiel, sogar eine neue Schwangerschaft. Eine Fortsetzung wird es sicher auch geben, man ist gespannt. Abgesehen davon: Ein Wesen, das solche Kunst erschafft, kann so durch und durch schlecht doch gar nicht sein. Oder?