Neues von Lena Gorelik und Shida Bazyar

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Neues von Lena Gorelik und Shida Bazyar

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Also, wenn Migration eine “Krise” darstellt, wie manche meinten und meinen – dann ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur eine Krisengewinnlerin. Die Welt hat Einzug gehalten, in vielfacher Hinsicht, und dadurch wurden und werden Welten gewonnen. Danke dafür, erstmal. Wurde hier auf dem Blog ja auch schon des öfteren bekundet. Die Auswahl an Romanen und überhaupt Büchern “mit Migrationshintergrund” ist im Moment jedenfalls weiterhin: reichhaltig.

Aktuellestes Beispiel ist “Wer wir sind” (Rowohlt Berlin, Euro 22,–), der eben erschienene neue Roman von Lena Gorelik, die 1981 in St. Petersburg zur Welt kam und 1992 mit Oma, Eltern und dem Bruder als “Kontingentflüchtling” nach Deutschland kam. Genau davon erzählt sie in ihrem autobiographischen Roman, der nicht bloß Migrations- und Familiengeschichte ist, sondern auch eine spannende sprachkritische Reflexion: Im Kern der Erzählung steht die – schwer erträgliche – Zeit im Übergangsheim. Die alte Heimat – verschwunden; eine neue nicht wirklich in Sicht. Einzige Hoffnung: Die neue Sprache, das Deutsche. Je schneller die kleine Lena Gorelik sie lernen würde, desto heller die Aussichten. Also hielt sie sich ran – und legte genau so den Grundstein für einen Beruf, in dem diese Sprache das Handwerkszeug ist, den der Schriftstellerin natürlich. Was für eine Geschichte! Die übrigens, nebenbei bemerkt, auch sehr eingängig zu lesen ist: Lena Gorelik macht es ihren LeserInnen leicht, für Momente in die Fremdheit hinein zu schlüpfen, denen sie mit Hilfe eben der Sprache zu entrinnen sucht. Und schafft dabei etwas, was eigentlich kaum möglich, fast ein wenig paradox scheint: Die Überwindung dieser zwischenmenschlichen Grenzen, die mit Migration einher gehen, zumindest für einen Moment.

Shida Bazyar, geboren 1988, stammt ursprünglich aus Hermeskeil in Rheinland-Pfalz, wo sie zur Welt kam und aufwuchs. Kann man da von “einem Migrationshintergrund” sprechen – oder ist das schon Ausgrenzung? Ihre Eltern sind als politische Flüchtlinge aus dem Iran nach Deutschland gekommen, dieser Familiengeschichte spürte Shida Bazyar 2016 in ihrem beeindruckenden Debütroman “Nachts ist es leise in Teheran” nach. Im April diesen Jahres ist ihr zweiter Roman erschinen – “Drei Kameradinnen” (Kiepenheuer & Witsch, Euro 22,–): Die Geschichte von drei jungen Frauen, die deshalb eng befreundet sind, weil sie in einem typischen “Migrantenviertel” einer namenlosen Stadt aufwuchsen, was sie eben zu “Kameradinnen” machte, trotz ganz unterschiedlicher Charaktere letztlich – und trotz ganz verschiedener “Migrationshintergründe”. Nach Jahren treffen die Drei wieder aufeinander, weil sie gemeinsam zu einer Hochzeit eingeladen sind, und an diesem Wochenende ereignet sich eine “unerhörte Begebenheit”, die das kristallisiert, was sie jahrelang an Ausgrenzung und Rassismen erlebt haben, worauf diese Geschichte einerseits im Kleinen und Persönlichen fokussiert, zugleich aber auch im Großen und Gesellschaftlichen, was sich dadurch verdeulticht, dass im Hintergrund gerade der NSU-Prozess beginnt. Eine Geschichte also zur Frage: Hat die deutsche Gesellschaft ein Problem mit Rassismus? So weit, so klar. Besonders interessant wird es nun durch einen erzähltechnischen Kniff, den Shida Bazyar vornimmt: Mit Hilfe ihrer Macht als Herrscherin des erzählerischen Kosmos dieser Geschichte kehrt ihre Erzählerin die Ausgrenzungsmechanismen für die Dauer der Geschichte einfach um. Warum? Weil sie es kann. Zumindest auf dieser Ebene, denn es ist ja ihre Welt.

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