Letztlich ist Familie ja auch nur ein Narrativ. In ihrem autofiktionalen Roman „Das Vorkommnis“ erforscht Julia Schoch Fiktion und Realität eines Konzepts, das unser Leben prägt – mehr als uns manchmal lieb sein kann.
Das Vorkommnis: “Wir haben übrigens denselben Vater.“ Das sagt die Besucherin einer Lesung in einer norddeutschen Kleinstadt zur Erzählerin, also zu Julia Schoch, denn „Das Vorkommnis“ ist ein autobiografisch grundierter Roman. Kurz reagiert die Erzählerin, sie nimmt die Frau spontan in die Arme. Dann verliert sie sie aus den Augen – und kümmert sich auch nicht weiter um die unbekannte Halbschwester, über Jahre.
Wie kann das sein? Das ist eine der Fragen, die über diesem Text schweben. Eine weitere ist natürlich die, wer die Unbekannte sein könnte. Welche Umstände in diversen Biographien haben dazu geführt, dass es schließlich zu dem Vorkommnis am Signiertisch kommen konnte?
Julia Schoch lässt diese Fragen und mögliche Antworten eher nur mitschwingen. Im Kern erzählt sie von den Wirkungen auf sich selbst: Jahre später, während eines USA-Aufenthalts, bröckelt die Verdrängung. Aus Fragen werden Zweifel, aus Zweifel teils auch eine Verzweiflung. Was ist schon sicher, wenn nicht mal der persönliche Status in diesem Koordinatensystem der eigenen Familie sicher ist? Denn genau das geschieht: Dieses Vorkommnis hat eine Erschütterung bewirkt, die im ganzen Leben Raum greift.
Für die Schriftstellerin Julia Schoch, die Erzählerin also, gibt es eine Möglichkeit, mit dieser Erschütterung, mit dem Vorkommnis umzugehen, nämlich mit den Mitteln der Literatur. Das Ergebnis ist dieser nicht bloß autobiographische, sondern autofiktionale Roman, der nicht nur die Seelenlandschaften der Erzählerin erkundet, sondern auch die Wirkmacht dieses Konstrukts “Familie“ ausleuchtet. Dabei zeigt sich eine Koinzidenz mit dem Schreiben: Familie ist ja letztlich auch nichts anderes als eine Fiktion.
Julia Schoch: Das Vorkommnis. DTV, 2022. 191 Seiten. Euro 20,–