In ihrem fulminanten Roman erzählt Mariana Enriques eine andere Geschichte Argentiniens, mit Blick auf die verborgenen Seiten der Macht seit der Kolonialzeit: die Schatten der Vergangenheit werden zu den Geistern der Gegenwart.
Ein Mann und sein Sohn. Zur Zeit der Militärdiktatur in Argentinien in den 1970er Jahren. Sie sind unterwegs im Auto. In Richtung Provinz. Hitze und Licht. Nur die beiden. Der Mann ist merkwürdig. Gesundheitlich angeschlagen, zugleich getragen von einer seltsamen, düsteren Kraft. Auch an den hellen Tagen. Eine Kraft, so wird sich zeigen, die auch mit dem kürzlichen Tod der Mutter des Jungen zu tun hat. Und vor der er den Jungen schützen muss, koste es, was es wolle, auch Leben, die von anderen, möglicherweise sein eigenes. Vom Kleinen ins ganz Große: Aus diesem Entrée entwickelt Mariana Enriquez eine Story, die Welten und Zeiten umfasst – und die zwischen Literatur-, Film- und Gameästhetik oszilliert.
Juan, der Vater, ist das Medium eines mächtigen Ritus, der schon seit Generationen im Geheimen seine Kulte pflegt. Gaspar, sein Sohn, soll diesem Unheil entzogen werden, soll ein normales Leben führen. Das haben die Eltern entschieden, das kostete schon seine Mutter das Leben. Kann es ein Entrinnen geben? Juan ist mächtig – und ohnmächtig zugleich. Die Kräfte, mit denen er zu tun hat, wirken seit der Kolonialzeit, vielleicht seit Ewigkeiten. Mariana Enriquez erzählt davon raffiniert konstruiert auf verschiedenen zeitlichen Ebenen, in einem variationsreichen Genre- und Gattungsmix aus Road Movie, Thriller, Familienroman, Mystery.
Die Schatten der argentinischen Vergangenheiten der Unterdrückung sind die Geister der Gegenwart des Landes. Die Gespenster derer, die sich befreien wollen, aber doch nicht loskommen können von den Prägungen, die sich der Gesellschaft eingeschrieben haben. Möglicherweise sind die Mittel des Horrors, des Surrealen, des Phantastischen unverzichtbar, wenn man von ihrer ungeheuren Wirkmacht erzählen will.
2019 erhielt Maria Enriquez „für Nuestra parte de noche“ den wichtigen Herralde-Literaturpreis für den interessantesten unveröffentlichten Roman im spanischsprachigen Raum. “Unser Teil der Nacht“ schreibe sich mühelos in die Tradition großer lateinamerikanischer Romane wie “Hundert Jahre Einsamkeit“ oder “2666“ ein, schwärmte damals der mexikanische Schriftsteller Juan Pablo Villalobos im Namen Jury.
An der Schwelle zwischen Licht und Dunkel zaubert Mariana Enriques aus dieser Gemengelage mit den Mitteln der Literatur ein Epos, das seine Initiierten mit aller Macht in den Bann zieht. Auf 821 Seiten – und möglicherweise auch darüber hinaus. Große Kunst des Erzählens und zugleich auch exzellente Unterhaltung.