Ich bin auf Nacha Vollenweider eher zufällig gestoßen – bei den Litprom-Literaturtagen 2019 in Frankfurt, bei denen es um das Thema Migration in der Literatur des Globalen Südens ging und sie kurzfristig eingesprungen war nach der Absage von jemand anderem. Nacha war auf einigen Podien zu Gast, da agierte sie auffallend „frisch“ und klug und auch mit einem großen Selbstverständnis, eine spannende und ausgesprochen sympathische Persönlichkeit.
Am Abend irgendwann zwischen dem siebten und dem elften Getränk erzählte sie mir dann Teile ihrer interessanten Lebens- und Migrationsgeschichte zwischen Argentinien und Deutschland. So entstand die Idee, dass man sie mal einladen könnte, wenn sie wieder in Deutschland ist und ein neues Buch/eine neue Graphic Novel rausbringt, was jetzt der Fall ist. “Zurück in die Heimat”, so heißt dieses Buch, und es ist ein beeindruckendes autobiographisches Comic, in meinen Augen noch besser als ihr Debüt “Fußnoten”, das auch schon sehr gut war. (Das Interview findet sich HIER auf meinem Blog.)
Hat allerdings ein bisschen gedauert, denn dann kam ziemlich schnell Corona. Gerade, als der erste Lockdown über unser aller Leben krachte, also im März 2020, war Nacha wieder in Europa unterwegs. Allerdings blieb sie in der Schweiz „stecken“ – musste über Wochen in einer Ferienwohnung „eingesperrt“ warten, bis sie mit einem Rettungsflieger der argentinischen Regierung zurück in die Heimat gelangt ist. Eigentlich sollte sie ja einen Preis für ihr Debüt „Fußnoten“ in Stuttgart entgegen nehmen, aber daraus wurde nichts, das wurde später digital nachgeholt, weil es bis eben jetzt keine Möglichkeit für sie gab, wieder nach Europa/nach Deutschland zu kommen.
Zurück in Argentinien geriet sie in den „harten“ Lockdown, der dort verhängt worden war – und der von März bis August 2020 andauern sollte. Diese Zeit verbrachte sie in ihrer WG in der Stadt Córdoba, was sie sehr schwierig fand, man verstand sich wohl nicht insgesamt blendend innerhalb der Gemeinschaft. Als dieser „harte“ Lockdown vorbei war, ging sie zurück in die Stadt, in der sie 1983 auch zur Welt kam und dann aufwuchs, die Stadt der Familie also – Rio Cuarto. Sie musste mit einem Taxi umziehen, weil es mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht möglich war zu reisen.
Das alles, also die Rückkehr, findet sich zum Teil auch in ihrer neuen Graphic Novel „Zurück in die Heimat“ erzählt – wie sie erst bei der Mutter lebte, dann bei der Oma, was ziemlich anstrengend war, aber auch interessant mit die Vergangenheit (der Migration) in der Familie – bis sie dann auszog nach Rio Cuarto.
Heute lebt sie in einer kleinen und sehr günstigen Wohnung dort – und versucht, sich mit sehr wenig Geld durchzuschlagen. Das ist nämlich ein großes Problem: Es gibt keinerlei Unterstützung für Künstler in Argentinien, sowieso eine Dauer-Wirtschaftskrise, viele Aufträge sind auch weggefallen. Eine Bank war für Nacha Vollenweider immer Europa/Deutschland: Für hiesige Verhältnisse sind die Honorare auch nicht üppig, klar – aber in Argentinien konnte sie mit dem, was sie in Europa erwirtschaftete, ganz gut leben. Der Euro ist was wert dort. Das fiel ab dem März 2020 natürlich erstmal komplett weg – und eben erst jetzt konnte sie wieder nach Deutschland reisen, was auch nicht so einfach ist als Nicht-EU-Ausländerin.
Nun also noch zu ihrer persönlichen Geschichten – und damit auch zu ihrer Migrationsgeschichte. Sie ist, wie gesagt, in Rio Cuarto aufgewachsen – hat 2013 einen Abschluss in Malerei an der Universität in Córdoba gemacht. Comics hat sie schon immer gezeichnet, seit ihrer Kindheit. Nach dem Abschluss hat sie einen Workshop am Goethe-Institut besucht und dabei die deutsche Comic-Kunst kennen gelernt. In dem Kontext ergab sich die Idee, mal was ganz anderes zu versuchen und nach Deutschland zu gehen. Sie hat die Möglichkeiten recherchiert, es gab eigentlich kaum eine Chance – und doch zog sie dann den Jackpot: Nacha bekam ein Künstlerstipendium des DAAD – und wurde als Gaststudentin an der HAW Hamburg von Zeichnen-Ikone Anke Feuchtenberger angenommen. Sie lernte erstmal in Köln „schnell“ Deutsch – und machte in Hamburg auch ein Masterstudium, Thema Design mit Schwerpunkt Illustration/Comics.
Ihre Abschlussarbeit ist die Graphic Novel „Fußnoten“, in der sie von ihren Erfahrungen erzählt. Das ist wohl auch ein Feuchtenberger-Einfluss und sowieso ein großes Thema im zeitgenössischen Comic: das autobiographische Erzählen. Hier ging es um ihre Erlebnisse in Deutschland – verbunden aber auch mit Erinnerungen an die Vergangenheit (ihrer Familie) in Argentinien.
Und da schlummert wiederum auch das Thema der Migration: Die Ahnen von Nacha Vollenweider (daher auch der Name) sind im 19. Jahrhundert aus der Schweiz nach Argentinien eingewandert – außerdem hat sie einen Urgroßvater, der aus Dresden stammt. Das Interessante daran: Dadurch, dass sie Deutsch lernte, hat Nacha die Familiengeschichte nach ihrer Rückkehr ganz anders verstanden, sie hat zum Beispiel Briefe lesen können, Beschriftungen in Fotoalben etc. Die Erfahrung schildert sie so: Die deutsche Sprache war vorher wie ein Geheimnis für sie gewesen – aber sie war irgendwie auch immer schon da, ohne dass sie sie beherrscht hat – dadurch, dass sie es nun konnte, ist nur plötzlich alles real geworden. Ich finde das alles auch deshalb spannend, weil es mal eine andere Perspektive auf Migration erlaubt als die der „Migration nach Europa“ – dass es Jahrhunderte lang auch eine europäische Migration nach Südamerika gegeben hatte, spiegelt sich hier in einer Person/in einer Familie.
Das alles ist Thema in ihrer zweiten Graphic Novel, der aktuellen, also „Zurück in die Heimat“. Man merkt, finde ich, dass Nacha sehr gereift ist in den fünf Jahren seit „Fußnoten“. Der zweite Band ist nochmal dichter, auch noch besser komponiert. Beeindruckend, wie sie hier Autobiographisches mit aktuell Politischem, aber auch historischem Material verbindet. Das reicht bis hin zum Klimawandel und zum Thema des Lithium-Abbaus in Chile.
Bleibt noch die Frage, warum sie eigentlich 2018 nach sechs Jahren zurückgekehrt ist nach Argentinien. Die Antwort: Weil sie musste. Und dahinter steckt eine (letztlich leider tragische) Liebesgeschichte. Denn Nacha war (wie sie in ihren Comics ganz offen erzählt) auch deshalb in Deutschland gelandet, weil sie sich im Rahmen eine Workshops des Goethe-Instituts in eine aus Hamburg stammende Dozentin dort verliebt hatte. Die beiden waren einige Jahre lang zusammen und auch verpartnert, deshalb keine Probleme mit der Aufenthaltsgenehmigung – dann hat Nachas Frau sich aber entschieden, andere Wege zu gehen. Dass Nacha danach bleiben konnte, war so gut wie unmöglich, weil das Ausländerrecht (gegenüber Nicht-EU-Ausländern) bei so etwas extrem strikt ist. Es gibt auch keine „Pufferzonen“ – also, dass man mal eine Zeit lang nicht zusammen wohnt zum Beispiel, weil man Luftholen muss voneinander. Es gibt nur ganz – oder gar nicht. Man muss nachweisen, dass man in einer Wohnung lebt. Nacha hat dann irgendwann die Konsequenz gezogen und ist eben zurück nach Cordóba gegangen. Seitdem ist sie immer wieder regelmäßig in Deutschland, aber sie kann eben nicht mehr ganz hier leben, bedauerlicherweise …
“Fußnoten“. 208 Seiten. Avant Verlag, Euro 20,–. ISBN 978-3945034675
“Zurück in die Heimt“. 200 Seiten. Avant Verlag, 2022. Euro 22,– ISBN 978-3-96445-072-2