Manche Lektüreerfahrungen verblassen kaum gelesen, andere setzen sich fest, ploppen auch Jahre später immer wieder auf, werden zu kleinen Inseln im alltäglichen Gedankenstrom. Eines dieser Bücher war für mich der großartige Roman “Maylis de Kerangel”, Thema Organspende, dessen Verfilmung seit Anfang Dezember in den Kinos zu sehen ist. Hier deshalb nochmal meine Empfehlung aus dem Jahr 2015:
Einer muss sterben, ein anderer darf dafür überleben. Die unabwendbare Dramatik der Organspende. Eine im Grunde einfache Geschichte – die doch von höchster Komplexität ist. Davon erzählt Maylis de Kerangal in ihrem Roman „Die Lebenden reparieren“ auf grandiose Weise. Von Ulrich Noller
Man wähnt sich erstmal in einem Surferroman – beinahe: Drei Jungs machen sich frühmorgens auf den Weg, sie wollen in der Morgendämmerung an der Mündung der Seine in der Nähe von Le Havre ein paar perfekte Wellen abpassen. Das klappt auch; es hat sich gelohnt, den Wecker auf 5.50 Uhr zu stellen. Etwas später, auf der Rückfahrt, dann das Unglück: Eine glatte Stelle auf der Straße, der Kastenwagen der Drei bricht aus, irgendein Mast – und Simon Limbre, der nicht angeschnallt war, weil er vorne zwischen den beiden anderen saß, hat keine Chance mehr.
Hirntod. Ein 18-jähriger Junge. Man kann es kaum glauben, die Maschinen arbeiten, der Schwerverletzte sieht fast lebendig aus, aber die Sache ist eindeutig. Innerhalb kürzester Zeit vollzieht sich nun ein extrem verdichteter, hoch dramatischer Ablauf: Medizinische Diagnosen; selbst abgebrühtes Personal lässt der Tod eines so jungen Mannes nicht unberührt. Gespräche mit den Eltern; die müssen entscheiden, ob die Organe ihres geliebten Sohnes freigegeben werden. Und zugleich: Irgendwie trauern; das gilt für alle, auf verschiedene Weise, in all dem technisch-medizinischen Setting den Respekt behalten, den Respekt für Simon. Dann der Transplantationsprozess: Checks, Anrufe, Reisen, Entnahmeteams, Reisen, Zeitdruck, OP-Vorbereitungen, Hektik, Transplantation. Die Lunge, die Leber, zwei Nieren – im Zentrum das Herz. Schließlich die Frage, ob Simons Herz in dem Körper, in dem es weiterarbeiten soll, tatsächlich schlagen wird, der alles entscheidende Moment, am nächsten Morgen, genau um 5.49 Uhr.
„Die Lebenden reparieren“ ist nach „Die Brücke von Coca“ (2012) der zweite Roman von Maylis de Kerangal, der in Deutschland erscheint. Hier wie dort spürt die Französin, geboren 1967, den Fragen und Konsequenzen von Technisierungsprozessen nach, die so dynamisch sind, dass man der Entwicklung mental kaum hinterher kommt. Wie ist das zu verstehen, dass ein Herz plötzlich im Körper eines anderen schlägt, dass Organe von Toten weiter verwendet werden können?
Mit ihrer Geschichte sucht und findet Maylis de Kerangal verschiedene Antworten, und das auf beeindruckende Weise: Sie arbeitet – souverän, stilsicher und doch dynamisch – mit den Mitteln der Literatur: sie erzählt die Transplantation als Geschichte und das Drumherum in Geschichten (über alle am Prozess Beteiligten). Dabei fügt sie juristische, medizinische und ethische Reflexionsebenen geschickt und homogen in diese Geschichten und in die Grundhandlung ein.
Einer muss sterben, ein anderer darf überleben; das Herz des einen schlägt im Körper des anderen weiter – ganz und gar, durch und durch verstehen kann man das vielleicht gar nicht. Nach der Lektüre dieses Buches hat man immerhin aber eine Idee von der Unbegreiflichkeit des Ganzen. Und den Beteiligten – Spendern, Angehörigen, Ärzten, Organisatoren – wird ein literarisches Denkmal gesetzt.
Maylis de Kerangal: Die Lebenden reparieren (Réparer les vivants, 2014). Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Suhrkamp Verlag 2015. 255 Seiten. 19,95 Euro.