Dror Mishani, Mike Nicol, William Boyle: Aktuelle Kriminalliteratur aus Israel, Südafrika und den USA

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Dror Mishani, Mike Nicol, William Boyle: Aktuelle Kriminalliteratur aus Israel, Südafrika und den USA

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Dror Mishani: Die schwere Hand

Bewährungsprobe: Eine Frau wurde erschlagen, der erste Mordfall, den Kripokommissar Avi Avraham als Leiter zu bearbeiten hat. Und Avi erlebt eine Überraschung, als er sich durch den Sturm zum Tatort in Cholon bei Tel Aviv durchgekämpft hat: Er kannte die Tote, Lea Jäger, sie hatte um die zwei Jahre zuvor eine Vergewaltigung angezeigt. Der Täter von damals kann´s nicht gewesen sein, er sitzt noch ein, wer also steckt dahinter? Eine Spur: Ein Polizist soll im Haus gewesen sein, ausgerechnet, das behauptet ein Zeuge. Auf dem Revier gibt es niemanden, der einen Einsatz dort hatte. Die Frage ist also, wer der Polizist ist – und was er bei Lea Jäger gewollt haben könnte…
„Ein Tel Aviv-Krimi“, so steht es auf dem Cover dieses Romans, eine verkaufsfördernde Maßnahme, die so nachvollziehbar wie unzutreffend ist: Dror Mishanis Geschichten sind zu weiten Teilen eben in Cholon angesiedelt, nicht in Tel Aviv. Und es geht in diesen Romanen keineswegs irgendwie um Lokal- oder Stadtkolorit, sondern um grundlegende Fragen: Wie geht Erkenntnis? Was ist Realität? Was bedeutet Wahrheit? Der Täter ist mehr oder minder von Beginn an bekannt, bald auch die Umstände seiner Tat – es geht zunehmend um die Frage, wie sich Avi Avraham der „Wahrheit“ des Geschehens nähern, wie er die Realität des Verbrechens rekonstruieren kann. „Die Schwere Hand“ ist ein Dogma-Krimi mit philosophischem Drall, wenn man so will. Dror Mishani unterläuft und dekonstruiert die üblichen Tricks und Kniffe des Genres – faszinierend, wie hoch spannend sich sein Roman trotzdem liest.
(Zsolnay Verlag, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, Euro 22)

Mike Nicol: Korrupt

Korruption, Gewalt, weiter schwelender Rassismus, ökonomische Probleme und ein Präsident, der gegen alle an der Macht klebt um jeden Preis – die Aufbruchstimmung, die in Südafrika nach dem Ende der Apartheit herrschte, ist längst einer Gegenwart der Dauerkrise gewichen. Perfekte Umstände für eine lebendige Krimikultur, das belegt der enorme Ausstoß an lesenswerten Spannungsromanen aus Südafrika der letzten Jahre. Ein Beispiel: Mike Nicol, geboren 1951, Schriftsteller und Journalist, einer der interessantesten südafrikanischen Genreautoren, dessen neuester Roman „Korrupt“ kürzlich auch hier erschien.
Nach „Bad Cop“ ist „Korrupt“ der zweite Teil einer neuen Reihe, die Mike Nicol gestartet hat, im Mittelpunkt stehen Vicki Kahn, Juristin und Geheimagentin, indischstämmig, und ihr Freund Fish Pescado, weiß, Surfer, Privatdetektiv. Vicky wird nach Europa geschickt, um Linda Nchaba nach Hause zu holen – ein Model, das wohl über Belege für einen Mädchenhandel der besonders fiesen Sorte verfügt, in den höchste Kreise verstrickt sind. Fish bekommt den Auftrag zu untersuchen, wer hinter dem Mordanschlag auf einen Exilpolitiker der Zentralafrikanischen Republik steckt, bei dem auch dessen kleine Tochter getötet wurde. Und natürlich, klar, haben diese beiden Stränge, die SEHR doppelbödig pointiert ausgeführt werden, Koinzidenzen – alles endet schließlich irgendwann im monströsen Präsidentenpalast, und zwar: tödlich. Zumindest für den einen – oder die andere…
Eine Vielzahl an stark schraffierten Charakteren, der ausgefuchste Plot, die netten Verweise auf Größen des Genres, allen voran John le Carré, und insbesondere auch die deutlichen Anspielungen auf die realen politischen Verhältnisse am Kap: „Korrupt“ ist ein grandioser Polit- und Spionagekrimi, sehr aktuell, sehr dynamisch, sehr straff inszeniert – EinsA!
(btb Verlag, übersetzt von Mechthild Barth, Euro 10)

William Boyle: Gravesend

Es gibt sie noch, die guten Nachrichten. Die zum Beispiel, dass der Polar Verlag, der im letzten Herbst kurz vor der Insolvenz stand, gerettet wurde: In letzter Sekunde meldete sich ein Mäzen, der wohl nicht nur sicher stellte, dass die Pleite verhindert werden konnte, sondern sogar etwas Kapitel für einen Neustart vorstreckte. Was das heißt, kann man jetzt ermessen, mit den Titeln des Frühjahrsprogramms – dem Roman „Gravesend“ von William Boyle zum Beispiel: Gebundene Bücher, klares, nüchternes Design, weiterhin klasse Dinger aus dem Bereich des Noir, klar, aber eine insgesamt wertigere Anmutung, sehr gut gemacht, schmuck, Bücher, die man haben will.
„Gravesend“ erzählt die Geschichten einiger Menschen aus dem gleichnamigen Quartier in Brooklyn/New York, basierend auf einem Verbrechen, das lange Zeit, nachdem es geschehen ist, neue Kreise zieht: Ray Boy Calabrese, damals Typus besonders fieses Großmaul, kommt aus dem Gefängnis frei; 16 Jahre, nachdem er einen schwulen Jungen in den Tod getrieben hat. Die einen fürchten, andere bewundern ihn, manche wollen sich rächen, und die Frage ist: Wer ist Ray Boy Calabrese heute, was hat die Zeit mit ihm gemacht? Mit ihm – und letztlich doch auch mit all den anderen, allesamt mehr oder minder gescheitert, die wenigsten können zufrieden sein mit ihrer Existenz. Schuld und Sühne, Vergeltung – und Vergebung? Wohl eher nicht, einer wird es richten, irgendwie, vermutlich, in diesem facettenreichen, versiert komponierten, zunehmend bitteren Kleinod von einem Noir. Die Geschichte einer zerbrochenen Nachbarschaft, die niemals eine war; ausgeleuchtet als Modellanordung einer brüchigen, letztlich: kaputten Gesellschaft. Das Viertel eine Familie? In „Gravesend“ ist das nichts weiter als eine naive, törichte und letztlich tödliche Illusion.
(Polar Verlag, übersetzt von Andrea Stumpf, Euro 18)

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