Lesenswerte neue Romane aus Polen, Ägypten, Chile

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Lesenswerte neue Romane aus Polen, Ägypten, Chile

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Warschau, 1937. Das Zentrum des neuen Romans des polnischen Schriftstellers Szczepan Twardoch„Der Boxer“ (Rowohlt Berlin, Euro 22,95). Genauer gesagt: Das Epizentrum, denn dieser fulminante, plakative, gewaltige, auch: gewalttätige Roman löst nicht nur heftige Wellen aus, die durch Raum und Zeit bis in die Gegenwart rollen, er schüttelt einen auch heftig durch beim Lesen, beim Versinken in der Vergangenheit. Twardoch erzählt die Lebensgeschichte des jüdischen Boxers Jakub Shapiro, der allerdings nicht bloß Boxer ist, sondern auch der nur äußerlich charmante Bluthund des Parten von Warschau, Kaplica; zugleich durchleuchtet diese Geschichte eben dieses Jahr 1937, in dem (im Roman) Rechtsradikale einen Putsch planen – und der Antisemitismus grassiert. DAS wiederum ist eine der Wellen dieses Romans, die in die Gegenwart rollen, angesichts der Politik der aktuellen rechtsautoritären Regierung Polens, die zum Beispiel versucht, die Verantwortung für den Holocaust allein den Deutschen zuzuweisen. Szczepan Twardoch sieht das offensichtlich anders, mit seinem Roman liefert er einen umfassenden und detaillierten Beleg für den massiven Hass, dem Juden in den 1930er Jahren auch in Polen ausgesetzt werden. Wobei er eine Welt zeichnet, in der niemand zu „den Guten“ gehört, auch nicht die Juden, die entscheidende Rollen spielen, ganz im Gegenteil. Wie auch immer: Eine grandiose, spektakuläre Geschichte, Literatur im Breitwandformat.

Apropos grandios – und spektakulär: Das trifft auch für „Stadt der Rebellion“ (Wagenbach, Euro 24) zu, den Debütroman des englisch-ägyptischen Autors und Filmemachers Omar Robert Hamilton. Kairo, in diesem Fall, und das Jahr 2011, ebenfalls Epizentrum dieses Romans. Zur Erinnerung: Damals kam die ägyptische Revolution vom Tahrir-Platz in Gang, die zunächst den ewigen Diktator Mubarak aus dem Amt und nach den ersten freien Wahlen 2012 vorübergehend die Muslim-Brüderschaft samt Präsident Mursi an die Macht brachte, bevor nach tagelangen Protesten 2013 die Armee putschte und Mursi durch den heute noch amtierenden General El-Sisi ersetzte. Robert Omar Hamilton erzählt all dies, allerdings aus der Sicht „von unten“, aus den Perspektiven einer Gruppe junger Aktivisten, die von Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung, Offenheit träumen. Und die kämpfen für ihre Visionen, notfalls bis in den Tod. Die auch nicht aufgeben, als längst klar ist, wohin die Politik sich wendet, zunächst zu den radikalen Islamisten, die von zu vielen gewählt werden, dann in Richtung Diktatur – und damit, letztlich, zurück zu den Zuständen, die eigentlich enden sollten. All das ist bekannt, all das hat man auch noch mehr oder minder deutlich im Kopf von der Berichterstattung damals. Macht aber nichts. Entscheidend ist nämlich, wie Omar Robert Hamilton erzählt: Ihm gelingt ein Kunststück, das man fast als Quadratur des Kreises bezeichnen möchte, indem er dokumentarische und reportageartige Sequenzen mit persönlicheren, eher erzählerischen, stärker „literarischen“ Szenen so vermischt, dass man beim Lesen Abstand wahrt und den Überblick behält, zugleich aber doch auch immer ganz nahe dran ist am Geschehen – und spüren, nachempfinden kann, wie unbedingt, wie verzweifelt, wie mutig die Aktivisten für ihre Revolution, für ihre Freiheit kämpfen, und zwar: vergeblich. Die Charaktere wissen das, wir Leser mit zeitlichem Abstand sowieso – trotzdem schöpfen wir alle zwischendurch Hoffnung, wagen, an Veränderung zu glauben, an die Möglichkeit eines Happy Ends. Und auch das bezeugt, welch grandiose Roman-Chronik Omar Robert Hamilton gelungen ist. „Stadt der Rebellion“ ist bewegend – und beeindruckend. Und literarisch: exzellent.

Selbstverständlichkeiten, die man erst dann vermisst, wenn sie plötzlich verschwunden sind – zum Beispiel die Sehfähigkeit: Was bedeutet es, wenn man plötzlich nichts mehr sehen kann? Wie kann man sein Leben gestalten? Wie im Alltag zurecht kommen? Auf wen kann man sich verlassen? Basierend auf eigener Erfahrung, hat die aus Chile stammende, teils in New York lebende Autorin Lina Meruane, geboren 1970, solche Fragen zu einer bemerkenswerten Geschichte verdichtet, deren Protagonistin bei einer Party eben in New York eine Art Blutsturz in den Augen ereilt, woraufhin eben alles in Zweifel steht, was bis dahin selbstverständlich war – und eine unglaubliche Odyssee über Monate beginnt, Ausgang offen. Erst nach Wochen können zum Beispiel die Untersuchungen beginnen, die zeigen sollen, ob eine OP überhaupt möglich ist; und ob so eine hoch komplexe Operation erfolgreich sein kann, das zeigt sich wiederum erst halbe Ewigkeiten später. Bis dahin, mindestens: Dunkelheit. Zweifel. Verzweiflung. Kampfesmut. Angst. Hoffnung. Und, und, und… – „Rot vor Augen“ (Arche, Euro 20) ist ein detailliertes Protokoll der Entwicklungen und der Gefühlswelten, die damit verbunden sind; zugleich spürt Lina Meruane den existenziellen Fragen nach, mit denen so eine Krankheit konfrontiert. Heißt, dass sie letztlich – umfassend und facettenreich – blind die Augen öffnet: Ihrer Umgebung, vor allem aber sich selbst gegenüber.

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