Hinterher ist man bekanntlich immer schlauer. Und weil es kein radikaleres Hinterher gibt als das des Todes, ist das natürlich eine besonders spannende Frage: Was würden die Toten anders machen, wenn sie nochmals leben, wenn sie eine zweite Chance bekommen könnten?
Natürlich können die Toten nicht reden. Ein alter Mann, der fast täglich zum Friedhof spaziert, kann sie in Robert Seethalers neuem Roman „Das Feld“ (Hanser Berlin, Euro 22) trotzdem hören, zumindest glaubt er das, während seiner Spaziergänge zum Friedhof einer österreichischen Kleinstadt – und lässt uns teilhaben an dem, was die Toten zu sagen haben, in 29 (Lebens-)Geschichten aus dem Jenseits.
So entsteht nach und nach ein ganz besonderes Kleinstadtportrait – und zugleich ein höchst facettenreiches Plädoyer für´s Leben. Denn darum geht es in „Das Feld“ natürlich letzten Endes: Mit den Mitteln der Fiktion wird für einen Moment die Grenze zwischen Leben und Tod aufgehoben; die sprechenden Toten halten den lauschenden Lebenden den Spiegel vor.
Und das gefällt dem Publikum, so scheint´s: „Das Feld“ rangiert seit einigen Wochen auf dem ersten Platz der Bestsellerliste – und hat dabei immerhin Frank Schätzing mit seiner „Tyrannei der Schmetterlinge“ auf´s untere Treppchen verdrängt.
Ziemlich überraschend ziemlich weit oben hat sich auch die italienische (Drehbuch-) Autorin Francesca Melandri mit ihrem Roman “Alle, außer mir” (Wagenbach, Euro 26, übersetzt von Esther Hansen) platziert – eine gute Nachricht, denn “Alle, außer mir” ist ein wirklich richtig guter Roman.
Im Kern der sehr facettenreichen Story geht´s um die Lehrerin Ilaria aus Rom, die nach einem stressigen Tag nach Hause kommt und einen jungen Afrikaner, Flüchtling, klar, vor der Wohnungstür vorfindet – der behauptet, ein enger Verwandter zu sein. Genauer gesagt: Der Enkel ihres Vaters. Also eine Mischung aus Halb-Bruder und Halb-Neffe, oder so. Wie kann das sein? Der Vater lebt zwar noch, leidet aber so unter Alzheimer, dass er als Auskunftsquelle nicht in Frage kommt. Ilaria macht sich auf die Suche – und fördert überraschende Erkenntnisse zu Tage: Ihr Vater, von dem sie das niemals hätte glauben können, war in den 1940er Jahren ein überzeugter Faschist. Zu der Zeit hatte Italien das heutige Äthiopien als Kolonie annektiert; der Vater war dort, offensichtlich auch später. Und er führte eine Beziehung zu einer Frau, die deutlich im Gegensatz stand zu seinen faschistischen Ideen, ihn von diesen letztlich auch bekehrte. Der Rest ist Geschichte – diese Geschichte, die auf dem Treppenabsatz vor Ilarias Wohnung mehr oder minder ihren Anfang nimmt…
Francesca Ilaria leuchtet dieses Setting in vielen Facetten geschickt aus – sie erzählt vom Damals und vom Heute, von Haupt- und Nebenschauplätzen, von Afrika und von Europa, vom Fliehen und vom Bleiben. Ein extrem gut erzählter, sehr geschickt inszenierter, ausgesprochen kluger wie Informativer Roman, der detailreich das belegt, was die meisten Migrationskritiker nicht wahrhaben wollen: Natürlich haben die Fluchtursachen vielerorts auch mit dem unseligen Wirken der ehemaligen Kolonialmächte vor über 100 Jahren zu tun – und natürlich haben “wir hier” eine Verantwortung für “die dort”, auch historisch betrachtet. Abgesehen davon: Eine große Geschichte, die den Nerv der Zeit trifft – und zwar so, dass es richtig weh tut.
Okay, und nach dieser Pflichtlektüre sei Ihnen noch etwas Leichtes gegönnt, für den Urlaub, auch da haben die aktuellen Bestellerlisten so einiges zu bieten, natürlich: Zum Beispiel “Spur der Schatten”, den zweiten Teil der “Lost in Fuseta”-Reihe von Gil Ribeiro. Ist zwar nicht mehr ganz so originell wie der erste Streich, aber das Konzept mit dem autistisch-biederdeutschen Polizisten, der ins pralle Leben nach Portugal versetzt wurde, funktioniert immer noch ganz gut; dann zumindest, wenn´s um unverfängliche Unterhaltung geht. Von Guillaume Musso, dem französischen Bestsellerlieferanten zeitgenössischer Liebesgeschichten gibt´s auch was Neues – “Das Atelier in Paris” (Piper, Euro 16,99, übersetzt von Bettina Runge). Zwei einander bis dato unbekannten Menschen, Frau und Mann, klar, wurde ein- und dasselbe Atelier synchron vermietet, gemeinsam müssen sie ein dunkles Geheimnis lichten – eine typische Musso-Idee, kann man machen, keine Frage, ist auf jeden Fall eine ganz und gar entspannte Strandlektüre.