“Thriller”, so steht es da, auf dem Cover von Merle Krögers neuem Roman “Die Experten”, ohne Anführungszeichen. Die bräuchte es allerdings schon, um der Sache gerecht zu werden. Denn wie Merle Kröger diese “Thriller”-Ebene (nicht) bedient, wie sie sie nutzt und dabei dann auch in der Struktur ihrer Geschichte reflektiert, wie sie auflöst mithin, wie sie dies Element auch verwendet, um Zeitgeschichte regelrecht zu erforschen, allein das ist schon ein Hammer und rechtfertigt jede der 688 Seiten, die ihr prallvoller Roman anbietet. Thriller? Na ja. Ja und Nein. Sagen wir so: Ein Zwinkersmiley oder zwei darf man sich da durchaus dazu denken …
688 Seiten – ein wahrer Wälzer. Dabei erzählt Merle Kröger im Zentrum ihres allerdings extrem vielfältigen Geschehens eigentlich eine ganz einfach wirkende Geschichte: Die von Ria Hellberg, um die 20, Tochter eines Flugzeugingenieurs aus Norddeutschland. Wie viele andere Deutsche auch, wird Ritas Vater Anfang der 1960er Jahre von der ägyptischen Regierung unter Staatspräsident Nasser angeworben, um in Kairo und um Kairo herum eine eigene Flugzeug- und Rakenindustrie aus dem Boden zu stampfen. Für Rita zunächst eine abenteuerlich-exotische Zeit, ein Entkommen aus dem bundesrepublikanischen Wirtschaftswundermuff. Allerdings muss sie mit zunehmendem Erwachsenwerden erkennen, dass die politische Dimension ihres neuen Lebens in Ägypten so überschaubar nicht ist, wie sie lange glaubte. Beziehungsweise – sie muss erst einmal realisieren, welche politischen Dimensionen überhaupt da sind und mitschwingen. Und bald steckt Rita nicht bloß in einer so komplexen wie bedrohlichen Spionagegeschichte; sie muss sich auch entscheiden, auf welcher Seite – also: für welche Haltung – sie steht. Und koste es, wenn schon nicht das Leben, hoffentlich zumindest, so doch alles, was ihr sicher und verbindlich schien …
Das Private und das Politische also, die Verbindungen, Prägungen und Verstrickungen, hier hat Merle Kröger eine geradezu modellhafte Geschichte ersonnen. Und da wird diese “einfache Geschichte”, die dem Roman als Kern und Motor inne wohnt, schnell doch in ihrer Komplexität deutlich. Wie hochgradig diese Komplexität ist, zeigt sich schon daran, dass es in auf der zweiten, dieser politischen Ebene, nicht bloß um die deutsche NS-Vergangenheit geht, sondern vor allem auch um den Nahost-Konflikt bzw. um beides miteinander. Hier der noch relativ junge Staat Israel mit seinen schwerst traumatisierten Holocaust-Überlebenden, das schwierige Verhältnis zu dem allzu vergesslichen Deutschland, das wenige Jahre zuvor noch das Land war, in dem die Täter voller Überzeugung wüteten – dort das aufrüstende Ägypten, und zwar ausgerechnet mit Hilfe Hunderter deutscher Wissenschaftler, die schon in der NS-Zeit unter Hitler ihren Jobs nachgingen.
Die Frage, die sich dabei immer mehr ins Zentrum des Geschehens kristallisiert, ist die, wozu die Raketen und die Flugzeuge der deutschen Wissenschaftler und Ingenieure eigentlich dienen sollen: Geht es darum, ein modernes afrikanisches Land mit starker Wirtschaft und eigenen Groß-Ambitionen zu schaffen – oder geht es darum, Israel zu vernichten, möglicherweise sogar mit Atomsprengköpfen? Eine verspätete “Endlösung” auf Basis deutsch-ägyptischer Entwicklungszusammenarbeit? Unfassbar! Und das wird der Mossad mit allen Mitteln zu verhindern suchen; Rita Hellberg weiß davon zu erzählen. Da hat dieser zeitgeschichtliche Roman übrigens plötzlich auch eine ganz aktuelle Dimension, mit Blick auf das Atomwaffenprogramm des Iran …
Kannste Dir nicht ausdenken sowas, oder? Na, das war gar nicht nötig. Merle Kröger musste sich diese irre-apokalytpische Horrorvision nicht “ausdenken”, denn “Die Experten” ist ein dokumentarischer Roman, der auf zeitgeschichtlicher Realität fußt. All das, was hier erzählt wird, hat sich tatsächlich so ereignet. Oder ähnlich, ein Raum für Spekulation muss natürlich dabei sein, wenn man Vergangenheit rekonstruiert, geht ja gar nicht anders. Hier setzen die Mittel der Fiktion an, die Merle Kröger souverän anzuwenden weiß; und es ist ja sowieso so, dass mit Hilfe gezielter Fiktionalisierung mitunter mehr “Wahrheit” erkennbar ist, als das der Fall wäre, wenn ein Stoff komplett dokumentarisch aufbereitet wird.
Interessant ist jedenfalls in diesem Zusammenhang auch ein Blick auf die Genese des Romans sowie einer auf die Recherche. Hier kommt die Germanistin Stefanie Schulte Strathaus ins Spiel, Leiterin des Berlinale-Programms Forum Expanded. Eher zufällig fand sie vor einigen Jahren heraus, dass ihr Großvater Teil dieses ägyptischen Aufrüstungsprogramms gewesen war. Sie forschte nach, wie sie in einem eigenen Text erzählt, der dem Roman hintan gestellt ist – und sie hatte bald so viel Material beisammen, dass sie ihre Freundin Merle Kröger um Hilfe beim Ordnen der Unterlagen bat. Zusammen recherchierten sie weiter, und irgendwann war auch Merle Kröger so vertieft in diese Spurensuche, dass die Geschichte der Familie auch zu ihrem eigenen Projekt wurde – eben zu diesem Romanprojekt “Die Experten”. Die Recherche dauerte Jahre, und sie war GRÜNDLICH, unter anderem führte sie Merle Kröger in die Archive des Bundesnachrichtendienstes; Teile der Spionage-Unterlagen, die sie dort fand, sind im Originalton in den Roman eingewirkt. Im Nachwort berichtet Merle Kröger von ihrer Spurensuche – was da zu lesen ist, ist im Prinzip die Geschichte eines eigenen Romans.
Nun macht eine gute Recherche noch längst kein gutes Buch aus, nicht bei einem Sachbuch und schon gar nicht, wenn es um einen Roman geht. Und das ist der springende Punkt, an dem das Experten-Projekt von einem interessanten zu einem herausragenden wird: Wie Merle Kröger all die genannten Themen und Aspekte in eine Geschichte formt, die auf dem schmalen Grad zwischen Realität und Fiktion zu tänzeln weiß, das ist ganz große literarische Kunst – souverän, elegant, kreativ, authentisch und sehr, sehr intelligent erzählt und gestaltet. Ein großer, ein spektakulärer, ein bedeutender Roman. Für mich, so viel kann ich schon jetzt sagen, ein Roman des Jahres. Auf jeden Fall. Aber ich bin mir sowieso ziemlich sicher, dass von “Die Experten” noch viel länger die Rede sein wird. Auch deshalb, weil dieser Roman strukturell und dramaturgisch Maßstäbe setzt. Das betrifft übrigens nicht zuletzt die ziemlich geniale Auflösung der Thriller-oder-nicht-Frage ganz am Schluss.
(Suhrkamp Verlag. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Euro 20,–)
2 Kommentare
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In dem Buch geht es um deutsche Flugzeugbauer, im Ägypten der Nachkriegszeit.Ein Vater der dort eine Arbeit findet nimmt seine Familie mit, diese ist mit der Situation eher überfordert, grade die putzsüchtige Mutter und die grosse, eher eigenständige Tochter, aber auch die kleinere bleibt bei allem sich selbst überlassen und muss ihren Weg alleine finden. Der Sohn der Familie rebelliert von Anfang an und bleibt in Deutschland.
Ein sehr interessantes Buch, das mich viel Neues hat erfahren lassen. Das die Deutschen, nach dem Krieg, in Ägypten an Nuklearwaffen geforscht haben und das mit der Unterstützung des damaligen, dortigen Präsidenten, mitten im kalten Krieg, ist an sich schon schwer zu fassen, das sie dafür aber auch noch ehemalige Nazis ins Land geholt haben und die dort unbehelligt gelebt haben, ist noch schwerer vorstellbar.Die Geschichte ist sehr interessant geschrieben, so dass mich das Thema sofort gepackt hat und ich selbst nach dem ich es beendet hatte, noch im Internet weiter darüber nachgeforscht habe. Toller Schreibstil,lehrreich ohne langweilig zu sein. Vielleicht nicht gerade ein Thriller im eigentlichen Sinne, aber mindestens genauso spannend.
Danke für die Rückmeldung!