Aus Somalia/Norwegen, Malaysia/Singapur, Iran/Australien

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Aus Somalia/Norwegen, Malaysia/Singapur, Iran/Australien

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Nuruddin Farah, geboren 1945 in Somalia, ist einer der ganz Großen der Literatur vom afrikanischen Kontinent, heute lebt er in Südafrika. Sein Roman “Im Norden der Dämmerung” führt allerdings nach Norwegen, dort vor allem ins Milieu somalischer Einwanderer. Im Zentrum steht ein älteres Paar mit zwei Kinderen. Die Tochter lebt in Genf, wo sie als UN-Beraterin erfolgreich ist – der Sohn hat sich irgendwann unbemerkt radikalisiert, ist ins Land der Eltern gegangen und dort als grausamer Glaubenskrieger ums Leben gekommen. Zuvor allerdings hat er eine Frau mit zwei Kindern geheiratet. Für Gacalo und Mugdi stellt sich nun die Frage, ob sie diese ihnen völlig Unbekannten im Zuge eines rechtlich möglichen Familiennachzugs nach Norwegen holen. Sie entscheiden sich dafür – von den Konflikten, die aus dieser Entscheidung folgen, erzählt “Im Norden der Dämmerung” detailliert und empathisch, mit viel Herzenswärme für die toll erdachten Charaktere. Naja, zumindest für die meisten von ihnen. Ein Famlienroman, der zugleich ein Roman zur Zeit ist; mit Blick auf die Frage der Radikalisierung nicht bloß in muslimischen Gefilden, sondern auch im Bereich der neonazistischen Rechten, unter anderem spielt das Breivik-Attentat eine zentrale Rolle. Zugleich ist im “Norden der Dämmerung” auch eine Geschichte, die in vielen Nuancen und Facetten sehr beredt vom Leben derer berichtet, die gar keine andere Wahl haben, als irgendwo anders auf der Welt als “Migranten” ein neues Leben zu beginnen, weil man da, wo sie herkommen, längst nicht mehr leben kann. (Kunstmann Verlag, übersetzt von Wolfgang Müller, Euro 25,–)

Gleich zwei allein erziehende Väter spielen eine Rolle in dem Roman “Das Gewicht der Zeit” von Jeremy Tiang, geboren 1977, der aus Singapur stammt und in New York lebt. Ungewöhnlich ist das deshalb, weil die Geschichte in den Sechziger Jahren in Singapur beginnt, in einer Zeit also, in der alleinerziehende Väter ausgesprochen selten waren, zumal in Südostasien. Die Frau des einen wurde bei einem Bombenanschlag im Zuge der politischen Wirrnisse der postkolonialen Zeit getötet – die Frau des anderen war eine engagierte Linke, die sich irgendwann der kommunistischen Untergrundbewegung im Dschungel anschloss, weil sie sonst im Gefängnis gelandet wäre. Verbunden sind die beiden Väter dadurch, dass die Frau des einen, die beim Anschlag ums Leben kam, die Schwester des anderen ist. Jeremy Tiang folgt ihren Lebensgeschichten und denen der drei Kinder – und spiegelt damit die politische und gesellschaftliche Geschichte Singapurs von den 1960er Jahren bis heute. Er schlägt damit einen Bogen von der Kolonialzeit bis in die Gegenwart, immer mit dem Blick auf Machtstrukturen und ihre Wirkungen im Privaten und im Persönlichen; das ist hoch spannend auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Prägungen und Wirkungen der Kolonialpolitik in vielerlei Hinsicht wieder zunehmend debattiert werden. Zugleich sind die verschiedenen (Lebens-) Geschichten so angelegt, dass es eine klare Verankerung im Hier und Heute gibt, was die Wirkung des Ganzen natürlich nochmals verstärkt. Ein kluger und fesselnder Roman, sorgsam konstruiert, souverän erzählt, herausragend. (Residenz Verlag, übersetzt von Susann Urban, Euro 24,–)

Unglaublich – könnte man denken, wenn die Geschichte, die Behrouz Boochani, geboren 1983, in “Kein Freund außer den Bergen” erzählt nicht seine eigene, eine erlebte wäre: Weil ihm Gefängnis und Folter drohten, verließ der iranisch-kurdische Journalist im Jahr 2012 den Iran, und zwar mit dem Ziel Australien. Ein Transfer, den man in ein, zwei Tagen bewältigen könnte, mit Papieren und einer Einreisegenehmigung. Die Behrouz Boochani nicht hatte. Also machte er sich als Flüchtling auf den Weg – auf eine Odyssee, die Jahre dauern sollte. Grund: Zwischen Indonesien und Australien wurde Boochani mit dutzenden Anderen seitens der Küstenwache unter dramatischen Umständen von einem sinkenden Schlepperboot aufgegriffen und in ein Internierungslager auf der Insel Manus Island nörlich von Papua-Neuguinea verbracht. Sieben Jahre war er dort eingesperrt, unter unwürdigsten Umständen, davon erzählt er wie von seiner Flucht in seinem packenden autobiographischen Roman. Dieser Roman ist während der Internierung entstanden, auf einem Handy getippt, ebenso wie viele journalistische Beiträge, die Boochani während der Zeit schrieb. Eine unfassbare, eine fast unglaubliche Geschichte. Immerhin aber: eine mit einem Happy End. (btb Verlag, übersetzt von Gabriele Kempf-Allié und Manfred Allié, Euro 22,–)

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