Vor Sizilien wird ein Flugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg aus dem Meer gefischt; aus Berlin reist die Archäologin Nina an, der Name ihres unbekannten Großvaters stand auf der Passagierliste. Endlich Klarheit, wird die familiäre Leerstelle gefüllt? Eher nicht, denn unter den Angehörigen, die sich in den nächsten Tagen auf Sizilien versammeln, ist auch Joëlle, eine ältere Frau aus Israel, die nicht nur behauptet, dass Moritz ihr Vater ist, sondern dass er noch lebt. Die Geschichte dahinter, die Daniel Speck dann erzählt, handelt in den endenden Weltkriegswochen in Tunesien, im Italienerviertel Piccola Sicilia in Tunis vor allem, wo bis zum Einmarsch der Nazis Christen und Juden und Muslime (und alle anderen) friedlich zusammenlebten. „Piccola Sicilia“ (Fischer Verlag, Euro 16,99) ist eine Hommage an dieses Viertel und an diese Zeit. Zugleich erzählt Daniel Speck die Geschichte eines Wehrmachtssoldaten, der Juden vor den Nazis rettet, die ihn dann selbst wiederum beim Einmarsch der Alliierten retten, beruhend auf wahren Ereignissen. Packend und berührend – und man wundert sich, warum von den Weltkriegsereignissen von Tunesien nicht längst schon jemand erzählt hat.
Geschichten aus der Geschichte erzählt auch Inger-Marika Mahlke in ihrem Roman „Archipel“ (Rowohlt, Euro 20), mit dem sie kürzlich den Deutschen Buchpreis für den besten Roman des Jahres gewann: Die Geschichte der Insel Teneriffa, festgemacht an den Geschichten einiger Familien von dort, rückschreitend erzählt, vom Jahr 2015 bis zurück ins Jahr 1919. Heißt: Inklusive der „schwierigen“ Teile der Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, Bürgerkrieg, Franko-Diktatur etcpp. Und inklusive der Entwicklung der Insel vom fernen Sehnsuchtsort vor der Küste Afrikas zum Hot Spot des Massentourismus. Interessantes Roman-Projekt, und Inger-Maria Mahlke kennt sich aus im Thema, also auf der Insel; ihre Mutter stammt aus Teneriffa, sie selbst war deshalb von Kindheit an regelmäßig immer wieder vor Ort. Leider bereitet es nur bedingt Freude, mit ihr auf die Insel und dort durch die Zeit zurück zu reisen: Der Roman hat Längen, die einen auch deshalb zwischendurch schläfrig werden lassen, weil es viele Redundanzen gibt – und weil die handelnden Charaktere nur bedingt genügend Ausstrahlung haben, um einen länger als für eine überschaubare Begegnung zu interessieren. Auch das – zweifelsohne interessante – Konzept des Rückwärts-Erzählens überzeugt bloß beschränkt, diese Struktur, so scheint es mir zumindest, wird eher bloß abgearbeitet als wirklich ausgeschöpft. Alles in allem: Kein schlechter Roman, klar – aber „der“ Roman des Jahres? Ne, eher nicht.
„Mittagsstunde“ (Penguin, Euro 22) ist der neue Roman von Dörte Hansen, die mit ihrem Debüt „Altes Land“, erschienen 2015, so was wie einen Sensationserfolg schaffte, das Buch kam nicht nur völlig überraschend in die Top Ten der meistverkauften Bücher, es blieb dort auch ganz oben, und zwar eine halbe Ewigkeit lang. Mensch in einer Mitte-des-Lebens-Krise kehrt zurück in die Heimat, basierend darauf wird einerseits die Gegenwart und andererseits die Vergangenheit erzählt – in „Mittagsstunde“ wiederholt Dörte Hansen ihr Erfolgskonzept aus „Altes Land“, nur dass diesmal ein Mann im Mittelpunkt steht und die Geschichte eines kleines Dorfes namens Brinkemüll in Nordfriesland mit erzählt wird. Interessant daran ist, wie sich dieses Dorf – und da steht es stellvertretend für viele andere – in den letzten Jahrzehnten verändert hat, wie es nach dem Motto „quadratisch, praktisch, gut“ in eine bestimmte Norm gepresst und eingenordet wurde, insbesondere durch die so genannte „Flurbereinigung“ in den 1960er Jahren. Wer sich (wie ich) fragt, warum man bestimmte ländliche Gegenden Deutschlands nicht befahren, besehen oder begehen kann, ohne einen depressiven Schub zu erleiden, der findet hier ein paar Antworten.