Der Dichter und Verleger Dinçer Güçyeter aus Nettetal am Niederrhein wird, das wurde kürzlich bekannt gegeben, für seinen Band “Mein Prinz, ich bin das Ghetto” im Mai mit dem wichtigen Peter Huchel Preis für Lyrik ausgezeichnet. Ein großartiger Erfolg – und tolle Anerkennung für den Weg, den er mit seinen Gedichten, mit seinem Elif Verlag seit Jahren unbeirrt geht. Was alles andere als selbstverständlich ist. Denn Dinçer hatte andere Voraussetzungen, als andere sie haben: Er stammt aus einer damals so genannten “Gastarbeiter”-Familie, er hat kein Abitur, kein Studium. Er schöpft aus sich selbst, aus seinen Erfahrungen, oft auch aus der Familiengeschichte. Auf seinem Weg machte er vermutlich viele ernüchternde Erfahrungen – und sicher auch einige ermutigende. Eine entscheidende hat er neulich auf Facebook geschildert. Einfach runter geschrieben. Und genau so gebe ich diese Geschichte mit seiner freundlichen Genehmigung hier als Gastbeitrag wieder:
darf ich euch eine geschichte erzählen …
jahr 1993, papa kriegt keine luft, der krankenwagen nimmt ihn mit, nach zwei wochen wird er entlassen, mit einem sauerstoffgerät … die kneipe muss geschlossen werden … das finanzamt, die lieferanten schicken mahnungen, vollstreckungen, männer mit koffern stehen vor der tür (gerichtsvollzieher), begutachten alles, was in der kneipe/wohnung steht, mama weint am küchentisch … „dincer, zieh deine jacke an, in der schublade liegen hunderte/nichtbezahlte bierdeckeln, wir sammeln das geld“
ich und mutter klopfen bei den leuten an, einige vertrösten uns auf den nächsten monat, einige lehnen ab, paar sagen zu mutter, sie soll als frau vorsichtig sein, in abendstunden bei fremden leuten anzuklopfen gehört nicht zu guten manieren … mutter senkt den kopf … weitere mahnungen, gerichtsvollzieher, das konto meiner mutter wird gepfändet …
ich sitze vor der haustür … “na, dincer, wie geht’s dir“ ruft eine stimme, ein großer mann in einem schwarzen mantel, herr hoeke, der richter vom amtsgericht… ich bin hilflos, kriege kein wort raus, weine … erzähle ihm die ganze geschichte… “sammle alle papiere zusammen, ich komme morgen vorbei“. am nächsten tag kommt er, mutter unterschreibt eine vollmacht, herr hoeke nimmt alle papiere mit. mit allen vereinbart er eine ratenzahlungsvereinbarung, ruft die bank an, die pfändung wird aufgehoben…
so beginnt eine freundschaft, ich bin 14, er damals über 50.
er hört von meinem vater, dass ich schreibe, freitags nach seiner schicht kommt er zu uns, liest alles, was ich schreibe, bringt bücher mit: novalis, rilke, eichendorf, fried, lasker-schüler. bespricht mit mir alle texte … dann schenkt er mir das istanbul-buch: dincer, du musst diese stadt erleben, du bist ein dichter, diese stadt wird dich inspirieren …
im ersten lehrjahr fliege ich mit mit meinem gesparten geld nach istanbul, von istanbul schicke ich briefe an herrn hoeke, auch später … ein briefwechel beginnt …
jahr 2001, er schreibt mir: dincer, deine zeit kommt langsam, du musst vor menschen lesen, die müssen deine gedichte hören… er überzeugt ulrich schmitter, den leiter der stadtbibliothek in nettetal, eine lesung wird organisiert, herr hoeke schreibt an die presse. jahr 2002, die stadtbibliothek ist voll, menschen, viel zu wenig stühle. “die kollegen können auch im stehen zuhören, sagt herr pahnke (der magazin-mann im werkzeugbau, die kollegen (harte männer) von der fabrik geben ihre stühle weiter an die anderen gäste weiter… ümit spielt saz, irene violine … dincer liest seine seltsamen texte …
am nächsten tag kommt herr hoeke mit zeitungen. rheinische post schreibt: gedichte zum umarmen … in zukunft wird dieser junge mann noch viel zu sagen haben…
westdeutsche zeitung formuliert es bisschen witziger: jedes jahr gibt nettetal mit martin walser, elke heidenreich in der werner-jaeger-halle an, wird das nicht langweilig? endlich konnte man gestern abend eine junge stimme hören, die viel spannender klingt … ich bin damals ein grosser fan von frau heidenreich, liebe ihr buch “rudernde hunde“ sehr!
die lesungen in der stadtbibliothek werden wiederholt, zuletzt mit meinem freund wolfgang schiffer (2019) … zurück: 2003 … dem papa geht es nicht besser, onkel ist gestorben, mutter kurz vor der rente, ich habe schon meinen gesellenbrief … langsam nehmen die, nach und nach, alle abschied … papa verlässt mich … herr hoeke auch … ich will nicht mehr schreiben, bis ich 2015 den wolfgang treffe …
gestern kam ein umschlag, die adresse ist mir bekannt, frau hoeke schreibt … dincer, ich gratuliere
… ganz groß … auch wenn er nicht unter uns ist, der hans ist bestimmt sehr stolz auf dich, er sieht alles, dein vater auch …
ich nehme die briefe aus dieser kleinen truhe, schmunzle, weine, lache … in einem brief (dezember 2005) schreibt er: du hast einen langen/steilen weg vor dir, aber der dincer wird auch das schaffen… dem jungen dichter wünsche ich ein fohes neues jahr … hans hoeke …
ich sage heute zurück: ich hab zu danken, herr hoeke, für all diese geschichten, für all diese momente und wiederhole es zum 1000. mal: es war/ist ein gemeinsamer weg …
dein junger dincer