Der 9. November wird ja immer wieder als eine Art Schicksalstag der Deutschen beschrieben: Tag der so genannten “Reichskristallnacht” – Tag des Mauerfalls. Stella Leder, Enkelin des Schriftstellers Stephan Hermlin, erzählt ihre jüdisch-deutsche Familiengeschichte, in der sich von der NS-Zeit bis in die Gegenwart viele Facetten und Formen des deutschen Antisemitismus spiegeln – insbesondere auch mit den unterschiedlichen Ausprägungen im Westen und im Osten.
Stephan Hermlin, der von 1915 bis 1997 lebte, war einer der der bekanntesten Schriftsteller der DDR; seine Tochter Bettina Leder, die Mutter von Stella Leder, wurde im Zuge der Proteste um die Ausweisung Wolf Biermanns in den 1970er Jahren selbst aus der DDR ausgebürgert. Hermlin, der ebenfalls protestiert hatte, blieb in der DDR, wurde aber eng von der Staatssicherheit überwacht; unter anderem, wie sich nach der Wende herausstellte, von seiner Exfrau Gudrun, der Großmutter von Stella Leder. Ein traumatisches Ereignis, das viele Erinnerungen und vermeintliche Gewissheiten in Frage stellte – und das lange nachwirkte. Auch deshalb, weil selbst hier, im engsten Familienmilieu, antisemitische Muster eine Rolle spielten.
Stella Leder kam 1982 in Berlin zur Welt, wo sie heute auch lebt. Sie wuchs außerdem in Bremen, in der hessischen Provinz und in Frankfurt auf. Sie hat den Antisemitismus in vielen Variationen persönlich erlebt, inklusive hirntoter Provinznazis, die sie und ihre Freundin im Hessen der 90er Jahre mit Baseballschlägern jagten. Zugleich blieb der Bezug zum “östlichen“ Teil der Familie und zum berühmten Großvater bestehen. Die komplexe Zeitgeschichte ist dieser Familie in vielerlei Hinsicht eingeschrieben – mit den entsprechenden Brüchen. Davon erzählt dieses (Sach-)Buch, das fast auch ein Familienroman ist.
Der Antisemitismus in seinen historischen Abhängigkeiten ist dabei so etwas wie eine dunkle Konstante, und diese Familiengeschichte belegt sehr anschaulich, dass er jüdische Deutsche kontinuierlich trifft, nicht in singulären Ereignissen. Ein Phänomen mit System und Geschichte, dessen heutige “neue” Auswüchse da eben nicht neu, sondern Ausdruck einer Kontinuität sind. Stella Leder ist Kultur- und Literaturwissenschaftlerin; sie arbeitet für Nichtregierungsorganisationen unter anderem zu den Themen Antisemitismus und Rechtsextremismus
Stella Leder: Meine Mutter, der Mann im Garten und die Rechten. Eine deutsch-jüdische Familiengeschichte. Ullstein, 2021. Euro 22,–