Merle Kröger im Gespräch über ihren großen Roman “Die Experten”: Die jahrelange Arbeit an dem zeitgeschichtlichen Thriller, sagt sie, habe ihre Sinne geschärft für das, was in der Gegenwart passiert: “Die Kontinuität faschistischer und neofaschistischer Strukturen, die Vereinnahmung und Umdeutung progressiver Utopien durch die neue Rechte und die Dringlichkeit individuellen politischen Denkens und Handelns.”
(Eine Besprechung des Romans samt Angaben zum Inhalt/zur Story findet sich HIER auf meinem Blog …)
Thriller oder nicht Thriller, ist das für Dich eigentlich die Frage?
Absolut, und ich möchte diese Frage mit “Thriller!” beantworten. Allerdings nicht, um irgendein Verkaufsargument oder ähnliches für das Buch zu finden. Sondern weil ich mich von Beginn meiner schriftstellerischen Tätigkeit an mit dem Genre der politischen, systemkritischen Spannungsliteratur als einem Genre des poetischen Realismus beschäftigt habe. Die Fiktion ist ein Möglichkeitsraum, um über die Welt zu schreiben, wie wir sie erleben oder empfinden. Dass diese Welt voll struktureller Gewalt in rassistischer, sexistischer und ausbeuterischer Form ist, muss ich wohl nicht betonen.
Ich lese „Die Experten“ ganz klar als Thriller – aber als einen, der an den Genregrenzen operiert. Ein schmaler Grat, oder?
Finde ich überhaupt nicht. Ich teste eher Genregrenzen aus, weil ich sie nicht produktiv finde. Der Pfad ist sicher und breit genug, aber die Luft ist dünn :-).
Ist ja ein ganz schöner „Wacker“ geworden. Wie geht’s Dir damit?
Nach “Havarie” hatte ich eigentlich gedacht, meine Texte würden zukünftig immer knapper werden, aber “Die Experten” haben mich eines Besseren gelehrt. Es ist immer der Stoff selbst und die Methode, derer wir uns bedienen, die letztlich über die Menge an Text entscheiden. Ich habe die Arbeit stark als einen Prozess der Forschung erlebt – einer künstlerischen Forschung, wie Thomas Wörtche es beschreibt. Und dieser Prozess ist eben stark im Produkt abgebildet, weil er mir an sich schon so interessant und im Verlauf der Arbeit immer interessanter erschien.
Wie lange – und wie genau – hast Du eigentlich an dem Buch gearbeitet?
Von dieser historischen Episode und den Experten zum ersten Mal gehört habe ich 2011 durch Stefanie Schulte Strathaus, die gerade das Privatarchiv ihres Großvaters, eines Ingenieurs zusammen sammelte. Die Idee eines Romans entsprang der gemeinsamen Auseinandersetzung mit diesem Archiv und der Frage: Was machen wir nun damit? Das muss so um 2013, 2014 gewesen sein. Gespräche mit der Familie von Stefanie festigten die Idee eines möglichen Romans. Dann kam die Frage, wie man ein solch aufwändiges Rechercheprojekt finanzieren könnte, das hat auch wieder eine Weile gedauert. Mit Hilfe des Goethe-Instituts Kairo konnte ich dann 2017 nach Kairo fahren und 2018 kam der Suhrkamp-Verlag an Bord. Dann begann die intensive Zeit des Schreibens, die immer wieder durch weitere Recherchephasen ergänzt wurde. Und dann folgte noch die gemeinsame Arbeit mit dem Verlag rundum den fertigen Text, von Rechtefragen bis zu Überprüfung der historischen Quellen. Insgesamt habe ich das natürlich komplett unterschätzt.
Die Recherche war also, vorsichtig formuliert, ziemlich umfassend … Ich stelle mir das so vor: Du hast so ungefähr einen Lagerraum voller Unterlagen, hinzu kommen Anstöße, Gedanken, Erkenntnisse. Begegnungen. Unendlich viel Material, so scheint es. Wie ging das, dazu eine Geschichte zu finden?
Das Schöne an dieser zeitintensiven Arbeitsweise war, dass ich den kreativen Prozess der Geschichtenfindung und die Recherche miteinander verschränken konnte und nicht erst die Recherche abgeschlossen habe, um dann mit der Geschichte zu beginnen. So war z.B. schon relativ bald – nach den ersten Rechercheschritten im Familienkreis – klar, dass ich die Geschichte gern aus “Tochtersicht” und nicht aus Sicht des Ingenieurs selbst angehen wollte. Das war einerseits wichtiger Dreh, um mich der Tätergeneration mit der nötigen Distanz zu nähern und andererseits ein persönliches Interesse an der Vorgeschichte der ’68er-Bewegung, über die ich wenig wusste, vor allem aus feministischer Perspektive. Kurzum: Rita Hellberg hat sich ziemlich schnell als Mittelpunkt der Geschichte herauskristallisiert, und nach und nach erschienen dann ihre Begleiter und Begleiterinnen auf der Bildfläche. Für die Dramaturgie der Geschichte habe ich mich strikt an die reale Ereigniskette gehalten, die für meine Begriffe eine perfekte Thriller-Struktur hatte.
Im Nachwort findet sich der schöne Begriff „hineinfiktionalisieren“. Bei einer solch komplexen Gemengelage – wie wichtig ist es, das in der Struktur der Geschichte zu spiegeln? Oder kommt es darauf an, mit einer eher einfachen Story sozusagen dagegen zu halten?
Das ist eine interessante Frage. Ich würde nicht sagen, dass ich mich bewusst für eine einfache Story entschieden habe. Es war eher die Frage: Wie kann ich die komplexe Gemengelage abbilden, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben oder gar historische Objektivität? Denn es ist ja gerade mein Thema, mit Skepsis auf diesen Anspruch zu schauen und zu sagen: Geht kritischer mit sogenannten historischen Wahrheiten um und nutzt dieses Wissen dann auch für eine kritische Gegenwartsbetrachtung, die möglichst viele Perspektiven mitdenkt außer der eigenen. Eine große Hilfe in dieser Hinsicht war die formale Entscheidung, den Roman selbst als historisches Relikt zu begreifen: drei Fotoalben – sie könnten aus einem Nachlass stammen oder innerhalb der Familie weitergegeben worden sein. Diese Relikte haben auch etwas Verletzliches. Sie markieren den Eingriff in die Privatsphäre, können nachträglich manipuliert worden sein und – ganz wichtig: Sie geben mir die Möglichkeit, das Löcherige, die Lückenhaftigkeit einer historischen Konstruktion offenzulegen und damit zu arbeiten. Das heißt, ich arbeite nicht nur mit dokumentarischem Material, sondern ich erfinde auch mein eigenes dokumentarisches Material, an dem entlang ich das fiktionale Narrativ entwickle.
Hast Du eigentlich nach einem bestimmten Plan gearbeitet – oder eher intuitiv? Wusstest Du so ungefähr, was bei dem Ganzen herauskommen würde?
Als Filmdramaturgin arbeite ich immer mit einem Plan. Das hängt mit den unterschiedlichen Produktionsprozessen in der Literatur und beim Film zusammen. In diesem Fall hatte ich als Koordinatensystem die zentralen Figuren mit bereits relativ ausgearbeiteten Biografien (back stories), die reale Dramaturgie der Ereignisse und einen ersten Entwurf der drei Fotoalben. In diesem System habe ich mich dann extrem intuitiv bewegt und aus dem Schreiben heraus driften lassen. Das hat dann wiederum Auswirkungen auf die Koordinaten gehabt, zum Beispiel sind Fotos rausgefallen und andere entstanden, oder Biografien haben überraschende Wendungen genommen.
Hattest Du zwischendurch mal so ein Gefühl wie Angst vor der eigenen Courage? Denn es ist ja ein gewisses Risiko, so scheint mir, sich auf einen solchen Stoff einzulassen, über Jahre – mit der Gefahr, dass man auch damit scheitern könnte …
“Die Experten” ist sicher kein Projekt, das ich als Debut gemacht hätte. Es war weniger eine Frage des Mutes als der Kraft. Ich war überzeugt, dass der Erfolg des Projektes von meiner eigenen Fähigkeit und Bereitschaft abhängt, sprichwörtlich “unter jeden Stein zu schauen” und die historische Situation quasi von innen heraus zu begreifen. Eine große Hilfe war in diesem Zusammenhang der kontinuierliche Dialog mit Stefanie Schulte Strathaus, mit der ich einen Teil der Recherche zusammen gemacht habe und die mir nicht nur den Zugang zu ihrer Familie und deren Archiv, sondern auch zu Kairo und den dortigen Netzwerken ermöglicht hat. Dieser Dialog war wie ein Motor für das gesamte Projekt. Dennoch hatte ich, gerade in der Auseinandersetzung mit der Fülle des Archivmaterials, Momente, in denen ich dachte, meine Kraft reicht nicht. In diesen Momenten war auch Thomas Wörtche als Herausgeber eine große Stütze.
„Die Experten“ ist ein dokumentarischer Roman – wie funktioniert denn das Zusammenspiel von Realität/Dokumenten und Fiktion?
Es war mir wichtig, dass es eine Auflösung der konventionellen Hierarchie zwischen Dokument und Fiktion bzw. Plot gibt, und zwar in Hinblick auf die Sichtbarkeit des dokumentarischen Materials wie auch in textlicher Hinsicht. Das heißt, dass das dokumentarische Material nicht die unsichtbare Grundlage schafft, über der sich dann die vom schöpferischen Ego erschaffene Fiktion erhebt. Es wird selbst in der Geschichte sichtbar, übernimmt sie sogar manchmal. Und besonders nach der Phase intensiver Archivarbeit erschien es mir interessant, die verschiedenen Formen von Sprache in den Text einfließen zu lassen, die beispielsweise in den BND-Akten oder in der Berichterstattung in verschiedenen Teilen der Welt gebraucht wird. Auf der anderen Seite verwebe ich in dieser Form auch fiktionale “Dokumente” mit der Geschichte wie Songtexte, literarische Fragmente oder Filmzitate. All das spiegelt eine hybride dokumentarische Praxis, die Philip Scheffner und ich auch für unsere filmische Arbeit seit vielen Jahren immer weiter entwickeln und erweitern. Darüber hinaus ist es eine Aufforderung zum genauen Hinsehen. Es war mir sehr wichtig, dass die dokumentarischen Passagen im Roman nicht durch kursive Schrift oder Leerzeilen abgesetzt werden. Sie sind integraler Teil des Textkörpers.
Wer ist eigentlich die Erzählerin? Oder der Erzähler? Oder die ErzählerInnen?
In meinen anderen Romanen habe ich ja das multiperspektivische Erzählen sehr intensiv betrieben – darüber haben wir in früheren Interviews viel gesprochen. In “Die Experten” ist die Multiperspektivität komplexer. Die Perspektive des jeweiligen Kapitels setzt jeweils bei dem Foto an, das der Szene zugrunde liegt, und zwar bei der Person, die den Auslöser betätigt oder bei der Person, die selbst im Bild ist. Von da aus mäandert die Erzählperspektive durch das Kapitel, non-linear und wechselhaft, verharrt in der Nahaufnahme oder schnellt plötzlich hoch in den Überblick. Bleibt an einem Artikel hängen, den eine Person gerade liest. Gibt Einblick in private Briefe, Listen, Notizen. Legt nahe, es gäbe eine beobachtende Instanz wie in den Texten des BND. Darüber hinaus gibt es eine starke Autorinnenperspektive, die den Erzählfluss unterbricht, fast schon investigativ operiert und an Nahtstellen der Erzählung biografische Kontinuitäten von der NS-Zeit bis weit in die Nachkriegszeit hinein aufdeckt, Verbindungen zieht und manchmal geradezu manisch politische Einordnung betreibt. Weitere Erzählstimmen sind die Autor*innen der journalistischen Texte, Stimmen der Zeitgeschichte wie William Burroughs, Albert Schweitzer oder Martin Luther King, und – ganz wichtig – die Stimmen von Miriam Makeba, Umm Kulthum, Lou Reed, Nina Simone, Pink Floyd.
Welche Freiheiten hast Du als Autorin bei einem solchen Projekt – und welche nicht?
Ich habe mir die Freiheit genommen, in diese spezifische historische Situation hineinzufiktionalisieren. Und ich habe gleichzeitig versucht, keine realen Personen in Fiktionen hineinzuziehen, für die es keinerlei dokumentarische Grundlage gibt. Das heißt, für Leute, die in der Geschichte mit Klarnamen auftauchen, habe ich möglichst wenig fiktive Elemente (Dialoge, Handlungen) dazu-erfunden und den Figuren, die ich – oft auf der Basis von Gesprächen mit realen Personen und den Aufzeichnungen Beteiligter – erfunden habe, habe ich erlaubt, eigene Persönlichkeiten, Wünsche und Visionen zu entfalten. Das gilt insbesondere für Rita, Kai und Pünktchen und für Johnny.
Rita Hellberg ist unverzichtbar, nicht?
Historisch ist sie absolut verzichtbar. Sie spielt ja überhaupt keine zentrale Rolle im Gang der Ereignisse. Für mich wird sie gerade dadurch unverzichtbar. Sie ist die Projektionsfläche, auf die sich die Ereignisse quasi drauf legen. Rita ist nicht umsonst eine Person, die zunächst wenig ideologische Haltung einbringt, keine Lust hat, sich mit Vergangenem zu beschäftigen und damit eine freie Fläche eröffnet. Das ist auch charakteristisch für ein spezifisches Alter. Ihre Haltung entwickelt sich dann parallel zu den weltpolitischen Ereignissen, ihrer Auseinandersetzung mit der Tätergeneration des NS und dem damaligen Zeitgeist.
Wie hast Du sie eigentlich entdeckt/kennengelernt?
Ich hatte in der ersten Phase dieses Projektes die wunderbare Gelegenheit, mit einigen Frauen zu sprechen, die heute um die 70 sind und damals in Kairo gelebt haben. In diesen Gesprächen habe ich Rita entdeckt. In privaten Diasammlungen. In Zeitschriften. In einem Bob-Dylan-Video, ganz rechts, am Bildrand.
So begibst Du dich auf die Suche nach Wahrheit in einer höchst komplexen Gemengelage. In einer Situation maximaler Ambiguität. Wie geht das?
Ich habe lange gedacht, ich wäre auf der Suche nach Wahrheit. Doch eigentlich war ich auf der Suche nach maximaler Ambiguität :-)! Was ich damit sagen will: Der vielleicht interessanteste Moment auf dieser langen Reise war der, an dem ich festgestellt habe, dass es keine eindeutige Wahrheit hinter dem schwarzen Vorhang gibt. Dass bestimmte Fragen sich vielleicht nie beantworten lassen. Dass es Widersprüche gibt, die ich nicht auflösen kann. Dass Wahrheit gleichbedeutend mit dem Narrativ ist, das die Mächtigen schreiben. Und dennoch kann ich dazu, ähnlich wie Rita, eine Position beziehen und im Zweifel auch handeln. Das finde ich besonders heute wichtig, wo wir Zugang zu so vielen “Wahrheiten” und Perspektiven haben. Die müssen sich in meinem Kopf nicht gegenseitig neutralisieren, sondern ich kann sie in Beziehung zueinander setzen und daraus eine Haltung ableiten.
Gibt’s etwas, dass Dich besonders überrascht hat auf dem Weg?
Besonders überrascht hat mich Kairo. Als ich das erste Mal zu Stefanie dorthin gefahren bin, hatte ich das Gefühl, ich wüsste schon alles – so viel hatte ich gelesen, gehört, auf Fotos gesehen. Und die Situation hatte sich sehr verändert – seit Nassers Präsidentschaft in den 1960er Jahren sowieso, selbst seit der Revolution von 2011. Dennoch hat die Stadt mit ihren jahrtausendealten Schichtungen und ihrer überwältigenden Gegenwart erstmal alles andere ausgeschaltet und mich umgehauen. Das war toll. Ich musste dann nochmal hinfahren.
Und, hast Du eine Wahrheit für Dich gefunden auf dieser Suche?
Die Recherche, das Schreiben und die biografische Entwicklung von Rita Hellberg haben meine Sinne extrem geschärft für das, was heute passiert: Die Kontinuität faschistischer und neofaschistischer Strukturen, die Vereinnahmung und Umdeutung progressiver Utopien durch die neue Rechte und die Dringlichkeit individuellen politischen Denkens und Handelns.
(Copyright des Portraits: Suhrkamp/Schleßelmann)