Mit Krimis den Kapitalismus abschaffen? Das war der Plan, den das schwedische Autorenduo Maj Sjöwall und Per Wahlöö ab Mitte der 1960er Jahre verfolgte, mit ihrer zehnbändigen Reihe um den Ermittler Martin Beck. Der Kapitalismus hat´s überlebt, wenn auch knapp – dafür haben sich die beiden Marxisten halt den Kapitalismus angeeignet, nebenbei gewissermaßen: Indem sie eine Blaupause schufen für Hunderte, Tausende Skandinavienkrimis, mit denen Autoren und Verleger (und letztlich auch Fernsehmacher) sich bis heute ihre Stückchen vom Kuchen sichern. Alles begann mit dem Roman “Die Tote im Götakanal”, der 1968 auf Deutsch erschien. Eine kleine Hommage..
Die Tote aus dem Götakanal
Martin Beck trinkt Gin Tonic. In Motala, zusammen mit den Kollegen, im Speisesaal des Hotels, in dem er und ein paar andere Kripoermittler aus Stockholm untergekommen sind. Die Stimmung ist müde und trübe, da hilft auch kein Schnaps: Gerade haben die Ermittler eine peinliche Pressekonferenz überstanden, bei der sie die Ergebnisse ihrer Recherchen in Sachen der Toten aus dem Götakanal präsentierten, und diese Ermittlungsergebnisse lassen sich mit einem Wort charakterisieren: nichts.
Die junge Frau, deren Leiche ein Schwimmbagger am 8. Juli 1965 zufällig aus dem Schlamm gefischt hatte, konnte noch nicht einmal identifiziert werden; geschweige denn, dass der Mord an ihr auch nur ansatzweise aufgeklärt wäre. Die Frau wurde erst vergewaltigt, brutal, dann getötet. Ein ungeheures, ein kapitales Verbrechen. Ein Vorgang, der sich weitab des öffentlichen Lebens, fern „der“ Gesellschaft, jenseits der Rationalität im Dunkeln ereignet hat. Eine Tat, die nie hätte geschehen dürfen – und die erst recht nicht ungesühnt bleiben darf, niemals.
Aber alle Spuren sind ausgewertet, alle Klinken geputzt, alle Schlüsse gezogen – es hat keinen Sinn, dass die Experten aus der Hauptstadt weiter in Motala ermitteln. Man wird aus der Ferne dranbleiben an dem Fall, klar, man wird mit den Kollegen vor Ort weiter in Kontakt stehen. Allzu viel Hoffnung, dass der Mord irgendwann aufgeklärt und gesühnt werden kann, bleibt in diesem Moment nicht. Eine Niederlage.
Martin Beck – trinkt einen Gin Tonic
Nun mutet bei einem Mann wie dem Kriminalpolizisten Martin Beck die Bestellung eines Gin Tonic merkwürdig, fast schon frivol an – so solide, so unauffällig wirkt und lebt und fühlt dieser Polizist und Familienvater, dessen große Leidenschaft es ist, Schiffsmodelle aufzubauen. Martin Beck tut seine Pflicht, er erfüllt die Konventionen, er führt ein Leben in exakt abgemessenen, genau überschaubaren Bahnen – Beck ist das Gegenteil eines Exzentrikers, eine radikale Personifikation von Normalität. Man kann ihn sich mit einem Wasser vorstellen oder mit einem Apfelsaft, auch mal mit einem kleinen Bier zum Essen – aber mit einem Gin Tonic?
Das ist nur hier und jetzt, im Hotel in Motala, genau in diesem Moment plausibel, dem der Niederlage – und zwar als Versprechen: Einer wie Martin Beck gibt nicht auf, niemals. Er wird seine Pflicht erfüllen, unter allen Umständen. Beharrlich, genau, mit Blick für die Details, ein Handwerker der Polizeiarbeit. Mag er auch noch so tief in einer stecken – für Beck gibt es keine Sackgassen; höchstens Wege, die ans Ziel führen, zur Aufklärung eines Verbrechens. Zur Wiederherstellung der Ordnung. Zur Gerechtigkeit. Der Gin samt Tonic? Bloß eine Stärkung, auch für den Korpsgeist unter Kollegen, auf dem Weg dahin.
Als die Schweden Maj Sjöwall, geboren 1935, und Per Wahlöö, der von 1926 bis 1975 lebte, ihren „Helden“ Martin Beck erfanden, verfolgten sie einerseits ein eher mittelgroßes und andererseits zugleich auch ein ganz gewaltiges Ziel: Zunächst wollten sie eine Polizeireform kritisch aufarbeiten, bei der die traditionell regional organisierte schwedische Exekutive Anfang der 1960er-Jahre zentralisiert wurde, womit sie für Kritiker dieses Prozesses entscheidend an Unabhängigkeit verlor. Eine problematische Entwicklung auch deshalb, weil man in der schwedischen Linken Anfang der 1960er-Jahre generell mit großer Sorge auf die politische Entwicklung blickte: Gesellschaftskritiker wähnten das Land im Systemkampf zwischen Sozialismus und Faschismus, sie befürchteten, dass die Politik in Richtung Faschismus abkippen könnte. Dem wollten die bekennenden Marxisten Sjöwall und Wahlöö mit ihrem auf zehn Bände angelegten „Roman eines Verbrechens“ entgegenwirken, indem sie dem Kommunismus mit den Mitteln der Kriminalliteratur den Weg bereiteten. Das war das „große“ Ziel, das sie verfolgten.
Sjöwall & Wahlöö – und der Krimi als Weg zum Kommunismus
Krimi als Agitprop? Das klingt von heutiger Warte aus gesehen etwas absurd, war aber damals völlig ernst gemeint: Die beiden Journalisten waren leidenschaftliche Genreleser, Per Wahlöö hatte sogar Spannungsliteratur aus dem Amerikanischen übersetzt, etwa auch die berühmten Polizeiromane von Ed McBain um´s „87. Polizeirevier“. In der populären Genreliteratur sahen sie eine perfekt geeignete Möglichkeit, Menschen zu erreichen und zu überzeugen, die normalerweise nicht oder nur wenig lasen. Ihr Plan also: Agitation mithilfe von Genreliteratur. Zehn Bände sollte der „Roman eines Verbrechens“ insgesamt umfassen, eine erzählte Zeit von 10 Jahren, 1965 bis 1975. Begonnen wurde mit dem hier vorliegenden Band Die Tote im Götakanal.
Dabei gingen Sjöwall und Wahlöö mit einer ziemlich ausgeklügelten Strategie vor: Während in den ersten Teilen gesellschaftskritische Elemente nur sehr sachte anklangen, ließen sie nach und nach entsprechende Sequenzen immer dezidierter einfließen, in den letzten Bänden der Reihe enthielten ihre Geschichten geradezu pamphletartige Abschnitte. Flapsig ausgedrückt, könnte man sagen: Die LeserInnen wurden angefixt, um sie zunächst an die Stange zu bekommen, dann dort zu halten und so schließlich umfassend indoktrinieren zu können.
Den sachlichen, unscheinbaren Martin Beck lässt das nochmal in einem anderen Licht erscheinen: Er ist nicht bloß das Medium, dessen sich die Erzähler bedienen, um ihre Leser mitzunehmen in die Gesellschaft, wie sie sie sehen – sondern auch der Kristallisationspunkt, an dem Unterhaltung und „Information“ verschmelzen können. Man muss ja erst einmal darauf kommen, ausgerechnet Kriminalliteratur als Mittel der Agitation einzusetzen, schließlich scheint zwischen eher anarchischer Unterhaltung und politisch-gesellschaftlicher Pädagogik ein existenzieller, kaum überbrückbarer Widerspruch zu bestehen. Eine Kluft, die Sjöwall/Wahlöö durch Martin Beck in seiner unabhängigen Art aufheben und überbrücken: weil im Zentrum des Geschehens die unbestechliche Neutralität des Ermittlers steht, wird der gesellschaftskritische Blick des Gesamtkonstrukts gewissermaßen legitimiert. Mit Hilfe des steten Gegenpols, den Martin Beck darstellt, wird die Parteilichkeit der Erzähler plausibler und überzeugender. Zumindest in den schwedischen Midcentury-Welten des Autorenduos Sjöwall und Wahlöö.
Lego, Ikea, Scandicrime
Wie viele Schweden die beiden tatsächlich zu Marxisten gemacht haben, ist natürlich nicht bekannt, allzu große Massen scheinen es jedenfalls nicht gewesen zu sein. Darauf deutet übrigens auch die Tatsache hin, dass nach Aussagen der Autoren die Auflagen der Erstausgaben der Reihe umgekehrt proportional zum pädagogischen Gehalt fortschreitend sanken. Höchst erfolgreich waren Sjöwall und Wahlöö auch im Hinblick auf Verkaufszahlen letztlich trotzdem, wenn auch ganz anders als geplant: Mit ihrer Art, von Gesellschaft, Politik, Verbrechen und polizeilicher Arbeit zu erzählen, waren sie in vielfacher Hinsicht stilprägend für nordische Kriminalliteratur, der zehnteilige „Roman eines Verbrechens“ mit seinem Ermittler Martin Beck lieferte eine Blaupause für hunderte Variationen, Romane und Romanreihen verschiedenster (also teils auch sehr guter) Qualität, die seither in Wellen und Wellen und Wellen aus den skandinavischen Ländern zunächst auf den deutschen Markt und von hier aus häufig um die Welt rollten und rollen. Und diese Wellen samt ihrer Welten sind längst kein rein literarisches Phänomen mehr, sondern eines, das multimedial stattfindet, im Netz, in Film, Funk und Fernsehen. Skandinavische Krimis aller Arten und Qualitäten, häufig montiert nach dem Lego- oder Ikeaprinzip auf Sjöwall/Wahlöö-Basis, allerdings auch reduziert um den radikalen Polit-Faktor, sind ein Export-Erfolgsfaktor mit Milliardenumsatz. Die hoch kapitalistische Wendung eines zutiefst marxistischen Projekts, das entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Allerdings wäre es unangemessen, die Kunst von Maj Sjöwall und Per Wahlöö auf das gesellschafts- und sozialkritische Element ihrer Geschichten sowie auf ihre so plakative Botschaft zu reduzieren. Auch das zeigt die Re-Lektüre von Die Tote im Götekanal 50 Jahre nach dem ersten Erscheinen. Nein, die beiden beherrschten ihr Handwerk aus dem Effeff, und es ist erstaunlich, wie zeitgemäß sich der Roman ein halbes Jahrhundert später in mancherlei Hinsicht noch immer liest. Etwa wenn es um die Rekonstruktion von Zeitabläufen mit Hilfe von Filmmaterial geht. Modern wirkt auch der der Einbau von „dokumentarischen“ Elementen, wenn Verhöre nicht „erzählt“, sondern mit Hilfe der Verhörprotokolle dargestellt werden. Und auch die Spannungsstrukturen, mit denen Sjöwall/Wahlöö arbeiten, muten ausgesprochen zeitgemäß an: Die „rekonstruktive“ Spannung, die sich aus der Aufklärung des Mordes speist, wird im letzten Drittel des Buches durch den Einsatz einer jungen Kollegin als „Lockvogel“ mit packenden Thriller-Elementen ergänzt und verdichtet, also mit „prospektivem“ Blick nach vorne, Ausgang offen. Solch eine Mischung aus Elementen des Ermittlerkrimis mit denen des Thrillers kennzeichnet viele herausragende Spannungsromane der Gegenwart.
Und Martin Beck? Er ist sowieso über jeden Zweifel, über jede Aktualitätsfrage erhaben, dort oben im Krimiolymp, am Tisch mit den (wenigen) anderen wirklich stilprägenden Klassikern. Von dort, keine Frage, wird er – nur scheinbar aus der Ferne – weiter und weiter und weiter Licht ins Dunkel „der“ Gesellschaft bringen, wird dem Irrationalen seine Vernunft entgegen setzen, zusammen mit seinen Erben, mittlerweile sind übrigens auch viele Frauen dabei. Insofern: Noch einen Gin Tonic, bitte! Und einen Toast auf den Vater aller skandinavischen Ermittler!
Mit freundlicher Genehmigung der “Zeit”, in deren Edition “Kult Krimis” der Text zuerst und gedruckt als Nachwort erschien.