Zwei neue Romane aus Israel erzählen die Gegenwart der Gesellschaft, indem sie auch ihre Geschichte ins Visier nehmen: „Über uns“ von Eshkol Nevo und „Achtzehn Hiebe“ von Assaf Gavron.
Ein Haus in der Nähe von Tel Aviv – drei Stockwerke, drei Geschichten, so seziert der israelische Schriftsteller Eshkol Nevo in seinem neuen Roman „Über uns“ (dtv, Euro 22, aus dem Hebräischen von Markus Lemke) die Gesellschaft: Er pickt sich aus jedem Stockwerk eine Person heraus, der eine lange Erzählung gewidmet ist, und zwar mit direktem, persönlichen Erzähler. Aus der Sicht dieser Hauptfigur geht’s dann mitten hinein in ihr Leben, mit allen Höhen und Tiefen, Wünschen und Erinnerungen, Verletzungen und vor allem: Geheimnissen. Berührungspunkte im Alltag gibt es zwischen Charakteren kaum, wie das unter urbanen Nachbarn so ist, flüchtige Momente nur – und doch stehen sie alle zusammen letztlich für: die Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, die im Grunde nicht viel gemeinsam hat außer den jüdischen Wurzeln – und diesem Staat Israel, ein stets bedrohter Schutz, das Haus der Gemeinschaft, gewissermaßen. So entsteht ein Gesellschaftsbild Israels, das von der Gegenwart in die Vergangenheit reicht, von der Stadt aufs Land, vom Privaten ins Politische; aktuelle Ereignisse spielen ebenso eine Rolle, Proteste gegen hohe Mieten etwa, wie die Geschichte des jungen Landes, die Traumatisierungen durch den Holocaust etc. Das Haus ist der Link, der alles zusammenhält – und der Geschichte Rahmen und Struktur gleichermaßen verschafft. Schlau gemacht; ein Roman der mikro- und makrosoziologische Perspektive schon in die Struktur integriert hat, trotzdem lebendig bleibt, wegen der persönlichen Erzähler. Ganz abgesehen davon erzählt Eshkol Nevo einfach auch ein paar hoch spannende, teils auch rührende Geschichten; allen die der pensionierten Richterin, die nach dem Tod ihres Mannes noch einmal ein ganz neues Leben für sich entdeckt.
Lotta Perl, so heißt die alte Frau. Eitan Einoch weiß das deshalb so genau, weil sie ihn mit seinem Wagen meistens per App anfordert, da sieht man den Namen, gegenseitig. Lotta Perl also landet in Eitans Taxi, eines Tages, lässt sich von ihm zum Trumpeldor-Friedhof fahren, wo ein alter Freund von ihr beerdigt wird. Die beiden kommen ins Gespräch, mögen sich, freunden sich bald an, irgendwie – und von da an wird Eitan Lotta fast täglich vom Altersheim zum Friedhof der israelischen Gründergeneration kutschieren. Er mag die alte Frau, die lustig ist und eine Ausstrahlung hat. Bald braucht es auch keine App mehr, damit Eitan bei ihr vorfährt. An einem Morgen allerdings taucht Lotta Perl nicht auf. Eitan wundert sich, fragt nach – und erfährt, ziemlich bedröppelt, dass sie gestorben ist. Was er sich nun gar nicht vorstellen kann, Lotta war am Tag zuvor noch so quicklebendig. Außerdem hat sie etwas in der Richtung geäußert, dass sie sich bedroht fühle. Einem Impuls folgend, schaut der Taxifahrer sich die Tote in ihrem Zimmer an und stellt fest: Das ist eine tote, alte Frau, die da liegt – aber es ist nicht Lotta Perl. Merkwürdig, das alles; zusammen mit seinem Kumpel Bar macht Eitan sich an die Ermittlungen – die, wie sich bald zeigt, weit zurückführen müssen in die 1940er Jahre, in die Zeit, in der das englische Palästina-Mandat endete und der Staat Israel gegründet wurde. – Noch so eine Geschichte also, die einerseits die Gegenwart des Landes durchmisst, andererseits aber die Vergangenheit in dieser Gegenwart ausleuchtet. „Achtzehn Hiebe“ von Assaf Gavron (Luchterhand, Euro 22, aus dem Hebräischen von Barbara Linner) hat Züge eines Krimis, klar, ist aber viel stärker ein zeitgeschichtlicher Gesellschaftsroman; süffig erzählt und einnehmend geschrieben, klug konzipierte und hervorragend gemachte Unterhaltung mit Tiefendimension.