Sie hat, wie man so sagt, alle Zelte hinter sich abgebrochen, sogar ihre Beziehung beendet. Kann das gehen, dass man sein Leben rebootet, noch einmal komplett anders startet? Oder nimmt man sich und seine Erfahrungen doch immer viel stärker mit als einem das bewusst sein kann? Wien, glaubt die Journalistin Norah jedenfalls, könnte ein guter Ort sein für einen, für ihren Neuanfang. Norah hat in Berlin Schlimmes erlebt, sie ist traumatisiert; anfangs ist nicht klar, was genau ihr widerfahren ist und was sie sich hat zuschulde kommen lassen, diese Geheimnisse entblättern sich erst nach und nach.
Dafür wird Norah – und uns beim Lesen – direkt ein neues Rätsel gestellt: Sie werde am 11. Februar einen Mann namens Arthur Grimm töten, raunt eine mysteriöse Bettlerin der Journalistin auf der Straße zu, und zwar mit gutem Grund und aus freien Stücken. Nur eine Spinnerin? Oder weiß die Frau etwas, von dem Norah nichtmal eine Ahnung hat? Je mehr sie recherchiert, desto größer werden die Fragezeichen – und desto deutlicher zeichnen sich die Konturen des unfaßbaren Alptraums ab, in dem Norah sich verfangen hat. In dem man sie gefangen genommen hat? Wer weiß das schon. Ein Alptraum jedenfalls, der natürlich viel mehr mit ihrem doch nicht so vergangenen Leben zu tun hat, als sie es auch nur ahnen könnte. Wer ist dieser Arthur Grimm, das ist dann die eine Frage, und die andere: Warum sollte sie diesen Mann töten – oder auch nicht?
Eine großartige Idee jedenfalls – auf deren Basis Melanie Raabe einen sehr originellen Thriller gebaut hat, der virtuos mit den klassischen Opfer-Täter-Zuschreibungen spielt. “Der Schatten” ist der dritte Roman der Kölner Schriftstellerin, die nach langen Jahren, in denen sie für die Schublade schrieb, seit 2015 zu einer internationalen Erfolgsautorin geworden ist, deren Bücher sich global verkaufen. Eine Geschichte, die nicht bloß ein packender, cool inszenierter Psychothriller ist – sondern auch ein glasklarer Kommentar zu wichtigen Themen der Zeit, zu Macht und Machtmißbrauch etwa, zu Gerechtigkeitsfragen und zur Problematik der Privatsphäre in Zeiten der Digitalisierung. Wie auch immer, vor allem bietet “Der Schatten” eines: Klasse Unterhaltung.
Heute kommt „Der Schatten“ raus. Wie sehr schlottern Dir die Knie?
Schon ein wenig! Während ich am Schreibtisch sitze und am Text arbeite, blende ich die Gedanken daran, wem was gefallen oder missfallen könnte, komplett aus und versuche einfach, das beste und interessanteste Buch zu schreiben, das mir an diesem Punkt in meinem Leben möglich ist. Druck empfinde ich während der Arbeit kaum. Aber wenn es dann gilt, mein Werk dem Publikum vorzustellen, fange ich natürlich schon damit an, mich zu fragen, wie es ankommen wird. Das ist dann tatsächlichein wenig nervenaufreibend.
Das ist jetzt Dein dritter Roman. Wird das langsam zur Routine – oder musst Du Dich immer noch manchmal zwicken angesichts Deines Erfolgs?
Definitiv Letzteres! Ich weiß, wie viele tolle Autorinnen und Autorinnen es gibt, die trotz ihrer Qualitäten auf dem Buchmarkt kaum durchdringen – oder vielleicht noch nicht einmal einen Verlag finden. Ich hatte und habe unwahrscheinliches Glück und bin, so kitschig es klingen mag, jeden Tag dankbar dafür.
„Die Falle“, Dein Debüt, ist ja weltweit gefragt. Ändert das was am Schreibprozess, spürst Du mehr Druck?
Zum Glück schreibe ich schon sehr lange und habe meine Routinen. Ich weiß, was ich tun muss, um in den richtigen Schreibfluss zu kommen. Daher nehme ich den Druck, den ich sonst vielleicht hin und wieder empfinde, selten mit an den Schreibtisch.
„Unblutige Thriller“, so hast Du Deine Stoffe mal genannt – warum das?
Es mag ein wenig widersprüchlich klingen für all jene, die mit dem Genre Thriller zunächst einmal harte Bücher über Serienkiller assoziieren, aber ich habe mit Gewalt relativ wenig am Hut. Ich lese nicht gerne Bücher, in denen Gewalt exzessiv (und manchmal sogar als Selbstzweck) dargestellt wird, und dementsprechend schreibe ich so etwas auch nicht.
Warum eigentlich „Thriller“ bzw. „Spannungsromane“, was reizt Dich daran?
Mich interessieren an der Spannung vor allem die Mittel. Ich arbeite sehr gerne mit Cliffhangern, unzuverlässigen Erzählerinnen, überraschenden Wendungen. Und mich interessieren Geheimnisse. In meinen Büchern gibt es für gewöhnlich ein großes Rätsel, hinter dessen Lösung meine Leserinnen und Leser im Idealfall unbedingt kommen wollen. So etwas zu kreieren, macht mir unglaublich viel Spaß.
Wie stehst Du denn zu Alfred Hitchcock?
Er scheint ja ein zumindest für seine Hauptdarstellerinnen ausgesprochen unangenehmer Zeitgenosse gewesen zu sein, aber ein paar seiner Filme sind echte Meisterwerke. Ich liebe Vertigo, Der unsichtbare Dritte und natürlich Der Fremde im Zug.
Ich frage, weil ich meine, mich an eine kleine Verbeugung vor Hitchcock erinnern zu können, irgendwo im Text. Oder habe ich das reinprojiziert? Jedenfalls – ist er ja immer noch DER Meister schlechthin in Sachen Suspense, bis heute.
Oh, interessant. Manchmal weiß man ja nicht mehr so genau, wo die eigenen Ideen und Assoziationen herkommen. Ich mag Hitchcock, bin aber weder Expertin noch Über-Fan. Tatsächlich inspiriert mich ein anderer Regisseur sehr: Christopher Nolan.
Ich reite deshalb so auf dem Suspense rum, weil das ja ein Spiel mit den LeserInnen ist. Die LeserInnen wissen mehr als die ProtagonistInnen, grob gesagt. Mir scheint, dass das auch bei Deinen Texten zentral ist – aber zusätzlich treibst Du auch nochmal ganz schön perfide Spielchen mit den Erwartungen der LeserInnen. Bewusst?
Doch, das mache ich schon sehr bewusst so. Der Hitchcocksche Suspense, der entsteht, wenn das Publikum mehr weiß als die Protagonisten, ist wichtig. Und gleichzeitig kann man die Tatsache, dass das Publikum einen Wissensvorsprung empfindet, auch wieder nutzen, um es in die Irre zu führen. (Das darf man allerdings nicht übertreiben!)
„Am 11. Februar wirst du am Prater namens Arthur Grimm töten. Mit gutem Grund. Und aus freien Stücken.“ Das sagt eine merkwürdige Bettlerin zu Deiner Heldin, der Journalistin Norah. Ein, nein: der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte?
Absolut! Das war die Grundidee, der allererste Gedanke, den ich im Kopf hatte, als ich damit begann, die Geschichte zu entwicklen.
Im Grunde genommen hebst Du mit dieser Grundidee Täter- und Opfer-Schemata auf. Was reizt Dich daran?
Ob es mir gelingt oder nicht, ich will immer, dass sich irgendetwas an meinen Büchern frisch anfühlt. Und diese Prämisse, dass meine junge Protagonistin sich nicht in Angst und Schrecken versetzt fühlt, weil sie sich bedroht fühlt, sondern weil sie selbst die Bedrohung ist – das fand ich cool. Dem wollte ich nachgehen.
Wie wichtig sind eigentlich solche Ideen/Momente fürs Plotten und fürs Schreiben?
Für mich sind sie sehr wichtig. Ich mag das, was ich selbst „What the fuck?!“-Momente nenne. Wir alle lesen so viel, schauen so viele Filme und Serien. Dadurch haben wir uns ein untrügliches narratives Gespür antrainiert. Das führt dazu, dass viele uns oft schon ahnen, wo es spannungsmäßig lang geht. Dementsprechend aufregend ist es, sein Publikum völlig zu überraschen. Und dafür braucht es eine interessante Grundidee.
So, jetzt mal eine These: „Der Schatten“ – ein Roman zur #metoo-Debatte. Richtig?
Nicht wirklich. Ich habe den größten Teil des Buches geschrieben, bis #metoo durch die Medien ging. Aber es ist ja auch nicht so, als hätte es Machtmissbrauch nicht schon vor #metoo gegeben. Vielleicht lag das Thema irgendwie in der Luft. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit spielen auf jeden Fall eine große Rolle in meinem Roman.
Und tatsächlich haben auch reale Ereignisse, die ich verarbeiten musste, während ich schrieb, einen gewissen Einfluss auf die Geschichte genommen. Der Amtsantritt von Trump beispielsweise – und alles, was er mit sich brachte. Oder der Einzug der sogenannten „Alternative für Deutschland“ in den Bundestag. Ich weiß nicht, ob es sich überträgt, aber ich war 2017, während ich schrieb, ziemlich oft ziemlich wütend.
Es ist auf jeden Fall auffällig, dass „Der Schatten“ deutlicher so etwas wie eine gesellschaftskritische Dimension hat, hast Du das gezielt so angelegt?
Diese Motive haben sich tatsächlich eher so eingeschlichen. Das, was mich den Rest des Tages umtreibt, kann ich am Schreibtisch nicht einfach ausblenden. Glücklicherweise hatte ich das Gefühl, dass sich all diese Themen gut in meinen Roman einfügten.
Du bewegst Dich ja – bislang zumindest – eindeutig im Segment „Unterhaltungsliteratur“. Wie gut passt das zusammen?
Ja, und zwar richtig gerne. Das Wort ist für mich kein bisschen negativ belegt, denn ich finde, dass etwas Gehaltvolles auch durchaus unterhaltsam sein darf – oder es sogar sein sollte. Wenn mein Publikum mein Buch richtig gerne liest und trotzdem etwas darüber mitnimmt, wie ich auf die Welt und unsere Gesellschaft blicke, dann habe ich einen guten Job gemacht.
Keine Frage, da stimme ich Dir bei allem zu. Aber: Ist das nicht auch ein Wagnis? Oder ist das sowas wie ein Zeichen der Zeit?
Das ist sicherlich ein Wagnis. Aber ich habe mir über die Rezeption keine allzu großen Gedanken gemacht beim Schreiben. Und mein Verlag ist super und lässt mich machen.
Du bist zunächst in der DDR, dann in NRW aufgewachsen, Dein biologischer Vater stammt aus Benin – wie schaust Du ganz persönlich denn so auf die gesellschaftlichen Debatten?
Kurz gesagt: Mit einer Mischung aus wachsender Sorge und unerschütterlichem Optimismus. Ich habe das Gefühl, dass der Ton sehr schnell sehr viel rauer geworden ist und dass die Sitten mancherorts scheußlich verrohen. Aber die Gegenbewegung wird kommen, und ich habe dringend vor, ein Teil davon zu sein.
Du hast Dich ja in letzter Zeit häufiger auch jenseits des Schreibens zu gesellschaftlichen Fragen positioniert, insbesondere beim Protest gegen den geplanten AfD-Parteitag in Wiehl. Geht es darum – jetzt Position zu beziehen?
Absolut, ja. Ich bin im Kern ein introvertiertes Sensibelchen. Für gewöhnlich will ich nie etwas anderes tun, als daheim ein Buch zu lesen oder mit ein, zwei Menschen, die ich mag, irgendwo im Café ein Glas Wein zu trinken. Ich bin relativ harmoniesüchtig. Aggression stößt mich ab. Menschenmassen sind mir unangenehm. Aber ich habe das Gefühl, dass es aktuell alle positiven Energien braucht, um unsere Gesellschaft human und unser Land lebenswert zu erhalten. Also muss auch ein schüchterner Nerd wie ich tun, was er kann. Und wenn das nur heißt, den Diskurs nicht zu scheuen, auf Demos zu gehen, Veranstaltungen zu organisieren und Haltung zu zeigen.
Dein vierter Thriller ist sicher schon in der Mache, oder?
Die Idee ist da, aber sie muss noch ein bisschen gären in meinem Kopf. Ich habe noch keine Zeile geschrieben.
Kannst Du Dir eigentlich auch vorstellen, mal was ganz anderes zu schreiben – also keinen Thriller?
Oh ja! Ich lese in fast allen Genres, wenn man vielleicht einmal vom Liebesroman absieht und könnte mir so einiges vorstellen. Tatsächlich habe ich sogar noch mehrere unveröffentlichte Manuskripte in der Schublade – und das sind nicht alles Thriller, sondern zu Teil ganz klassische Romane.