Archipel mit Rollfeld, aber ohne Originaleinwohner: Shenaz Patel, Schriftstellerin und Journalistin aus Mauritius, erzählt in ihrem Roman “Die Stille von Chagos” von einer unbekannten Variante des Themas Vertreibung.
Könnte ein Paradies sein, das Archipel von Chagos, weit weg von allem, gelegen im indischen Ozean, zwischen Indien, den Seychellen und den Malediven. Strände, Wellen, Kokosnüsse, ein Südseetraum – zumindest für die um die 5000 US-Bürger, die auf der Hauptinsel Diego Garcia rund um die Militärbasis beschäftigt sind, die die Vereinigten Staaten dort seit Anfang der 1970er Jahre und noch mindestens bis 2036 betreiben.
Die eigentlichen Einwohner, die Chagosianer also, gucken in die Röhre; für sie ist das Archipel mal Sehnsuchtstraum, mal Alptraum – denn sie wurden Ende der 1960er Jahre zwangsumgesiedelt, ohne dass man sie in irgendeiner Form über ihre Zukunft informiert hätte. Einige Chagosianer leben seitdem in England, manche auf den Seychellen – sehr viele auf Mauritius. Dort blieb den meisten nichts viel anderes übrig, als in den Slums von Port Louis unterzukommen, und zwar ohne jede Perspektive – denn sie waren ja “nur” die Bittsteller, die Ungewollten, die Konkurrenten, die ungeschätzten Chagosianer…
Hintergrund dieser unbekannten Vertreibung: Eben die Militärbasis, die die USA planten und bauten – auf dem Eiland, das ihnen Großbritannien verpachtete und weiter verpachtet, der letzten Rest des ehemaligen britischen Kolonialgebiets vor Ort. Die vertriebenen Chagosianer hatten bis heute keine Chance, auf “ihre” Insel zurückzukehren, obwohl sie viele rechtliche Mittel ausschöpften. Nur zwei Mal war es einer Abordnung erlaubt, das Archipel für ein paar Tage zu besichtigen. Wer “illegal” (was auch immer das heißen mag) auf der Insel anlandete, wurde umgehend wieder fortgeschafft.
Shenaz Patel, geboren 1966, Schriftstellerin und Journalistin aus Mauritius, hat mit Chagosianern und ihren Nachkommen Kontakt aufgenommen – und auf Basis dessen eine kurze Geschichte dieser unbekannten Vertreibung geschrieben, mit Blick sowohl auf “kleine” Schicksale und persönliche Gefühle, wie auch auf die großen Zusammenhänge. Ein bemerkenswertes Buch, packende Zeitgeschichte, schnörkellos geschrieben, geschickt inszeniert und erzählt, unbedingt lesenswert.
Spannend ist “Die Stille von Chagos” in vielerlei Hinsicht – aber insbesondere sicher auch wegen des, sagen wir, Paradies-Effekts: Die Deportation der Chagosianer ist eine besonders symbol- und beispielhafte Vertreibung; sie zeigt paradigmatisch vor dem Hintergrund “unser aller” Südsee-Träume, wie wenig das Leben und Fühlen von Menschen zählt, wenn ökonomische und geostrategische Interessen im Spiel sind.
Dieses Paradies – es war übrigens kein ursprüngliches, auch dafür hat Shenaz Patel einen wachen Blick: Die Chagosianer kamen als Sklaven auf ihr Archipel. Und sie lebten selbst Mitte des 20. Jahrhunderts dort nicht in wirklich umfassender Freiheit; im Grunde “gehörte” das Eiland Unternehmen, die mit Erzeugnissen aus Kokosnüssen ihr Geld verdienten – und mit der Arbeitskraft der Insulaner, die ebenso ausgepresst wurde wie die Nüsse für ihr Öl. Trotzdem, so beschreibt es Shenaz Patel, war am Rande dieser Prozesse noch so etwas wie ein ursprüngliches, ein naturnahes Leben mit Fischfang, Ritualen und Gemeinschaft möglich – wovon in den Slums von Mauritius natürlich keine Rede mehr sein kann.
(Weidle Verlag, aus dem Französischen von Eva Scharenberg, Euro 18)