Zum Beispiel Samantha Schweblin, die 1978 in Buenos Aires zur Welt kam und dort aufwuchs, seit einigen Jahren aber in Berlin lebt: „Sieben leere Häuser“, ihr neuer Band mit Geschichten, ist auf Rang 6 gelandet. Sieben Erzählungen also, die um Häuser und Lebensgeschichten kreisen, die von Familienbeziehungen und Nachbarschaftskonstellationen erzählen – und von den Merkwürdigkeiten zwischen den Menschen, von den Leerstellen und toten Winkeln eben in den Beziehungen und Konstellationen. Geschichten, die um den Horror des Alltags kreisen und um die Leere in den Häusern, von denen sie erzählen, obwohl die doch bewohnt sind. Die existenzielle Verlorenheit des Menschen, darum geht es, nüchtern und präzise beobachtet, mit einem Blick für das Unheimliche im Alltäglichen – und doch auch mit einem gewissen unterkühlten Witz, mit einer grimmigen Situationskomik. Spannend. (Suhrkamp, Euro 20, übersetzt von Marianne Gareis)
Guadelupe Nettel, geboren 1973, ist in Mexiko längst eine etablierte Schriftstellerin und Publizistin; hier kennt sie noch kaum jemand, merkwürdigerweise, denn sie ist auch in Deutschland schon preisgekrönt, hat 2009 den wichtigen Anna-Seghers-Preis bekommen. „Nach dem Winter“, Rang 3 der „Weltempfänger“-Bestenliste für den Sommer 2018, ist ihr erster Roman der ins Deutsche übersetzt wurde, nach Erzählungen – das Wohl und Wehe der Migration ist sein zentrales Thema. Guadelupe Nettel erzählt von Cecilia, die aus Mexiko stammt und in Paris lebt, und von Claudio, der aus Cuba nach New York gegangen ist. Ihrer beider Liebesgeschichte – die natürlich nur scheitern kann – steht im Zentrum des Romans, drumherum jede Menge anderer Geschichten, die alle irgendwie mit Heimat, Fremde, Unterwegssein, Ankommen, Identität zu tun haben. Im Grunde genommen erleben Claudio und Cecilia eigentlich ja eine Anti-Liebesgeschichte, migrationsbedingt, letztlich. Ist aber gar nicht so schlimm, denn sie hat ja wegen der Migration überhaupt erst stattfinden können. Woanders hin zu gehen, dort ein neues Leben zu suchen, Migration also – das ist in diesem Roman etwas Selbstverständliches und etwas „Gutes“, eine Lebensform in der globalisierten Welt. (Blessing, Euro 22, übersetzt von Carola Fischer)
Was mir gar nicht so klar war: Auch Haiti und die Dominikanischen Republik gehören zu Lateinamerika. Was an dieser Stelle den Vorteil hat, dass der große kleine Roman „Tentakel“ von Rita Indiana mit in die Auswahl passt. Rang 5 auf dem “Weltempfänger”, übrigens. Rita Indiana? Eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Region, geboren 1977, Sängerin eigentlich, sie hat den Merengue, die typische Musik aus der Dominikanischen Republik, modernisiert und neu erfunden, dafür wurde sie berühmt. Daneben schreibt Rita Indiana schon länger, und ihr aktueller Roman ist ein echter Kracher: Ein Geschichte, die in ungefähr 15 Jahren spielt; ein ungeheurer Tsunami in Folge des Klimawandels hat alles geändert. Möglicherweise, vielleicht. Denn die Gelegenheitsprostituierte Acilde, die viel lieber ein Mann wäre, ist tatsächlich der Auserwählte des Santeria-Kultes; bestimmt, durch die Zeit zu reisen und jetzt, in unserer Gegenwart, die Dinge so zu manipulieren, dass alles anders kommen wird, als es gekommen ist. Klingt kompliziert? Ist es auch. Dabei ist diese kurze Inhaltsangabe schon arg vereinfachend, versprochen. Ein irrer, chaotischer und völlig verrückter Roman, der auf 150 Seiten Stoff für 800 bietet – und dessen aberwitzige Story trotz allem, letztlich, irgendwie, doch aufgeht. Auch das: Versprochen. (Wagenbach, Euro 18, übersetzt von Angelica Ammar)