Die Nibelungen? Die Dramen von Goethe oder Schiller? Ihre Gedichte? Die Romantik? Die Gedankengebäude von Kant, Marx, Nietzsche? Die Romane von Thomas Mann? Die Horrorszenarien von Frank Kafka? Blut und Boden, die NS-Literatur? Übermenschenfantasien? Heinrich Böll, Günther Grass, Uwe Johnson? Was Deutsch ist (in der Literatur und Philosophie), das ist schon historisch nur sehr schwer zu ermessen; eine ungeheure Vielfalt, Welten von Gedanken und Ideen verschiedenster Färbung – die letztlich nur einen gemeinsamen Nenner haben: Die Sprache.
Das Deutscheste am Deutschen ist die Sprache, das Deutsche. Literatur ist geronnene Sprache, mit deren Hilfe komprimiertes Leben erzählt und gespiegelt wird – also ist es jedenfalls schonmal keine falsche Fährte, wenn man in diesem Bereich auf die Spurensuche geht nach Antworten auf die Frage: „Was ist Deutsch?“ Wobei, obacht – deutschsprachig ist ja nicht unbedingt deutsch, Kafka zum Beispiel, das macht die Sache nochmal komplizierter. Was ist Deutsch? Ein Sprachraum, so viel ist sicher.
Immerhin. In der Literatur findet sich, siehe oben, eine große und reiche Tradition an Deutschem, und das Interessante daran ist unter anderem auch, dass diese Frage, was das Deutsche ausmacht, was Deutschland sein könnte, sehr viel früher in der Kultur und im Geistesleben Antworten fand als in der politischen Realität: Die Literatur, die man als „deutsche“ verstehen würde, gibt’s schon sehr viel länger als das vereinigte Land, die „verspätete Nation“ im Vergleich etwa zu Engländern und Franzosen.
Wobei man Literatur und Philosophie letztlich immer zusammen im Auge haben sollte, das eine ist ohne das andere (in Deutschland) kaum denkbar, beides ist eng verzahnt: In der Literatur wimmelt es vor philosophischen Gedanken – und in der Philosophie entstanden regelrechte Sprachkunstwerke, etwa von Friedrich Nietzsche. Beides gehört zusammen. Was auch deshalb wichtig ist, weil diese deutschen Gedankenwelten weltweit großen Einfluss hatten; viele Geisteswissenschaftler aus der ganzen Welt „mussten“ Deutsch lernen, weil sie die Klassiker der deutschen Geistesgeschichte im Original lesen – und richtig verstehen wollten.
Ein Job, um den niemand zu beneiden ist, sowohl was das Lernen der Sprache angeht als auch die Lektüre von Hegel, Kant oder Marx im Original. Ein Glück insofern, als Deutscher geboren zu sein und die Sprache sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen zu haben: Das Deutsche ist komplex, trocken, umfangreich, ordentlich. Oder? Da lernt man doch lieber Französisch, ist ja irgendwie sexy, oder Englisch, easy. Oder? Der Nachteil des Deutschen ist genauer betrachtet aber auch sein Vorteil: Das Genaue und Exakte, der Facetten- und Variantenreichtum erlaubt eine auch sprachlich adäquate Exaktheit im Detail, ein Ausleuchten von Sachverhalten (fast) bis ins Letzte. Dass diese Sprache dafür mitunter als schroff und allzu sachlich empfunden wird – na ja, Pech, geschenkt…
Könnte man sagen. Aber ist das tatsächlich so? Wer einmal eine Lesung von Feridun Zaimoglu besucht hat, kommt ins Grübeln und ins Zweifeln, was das Klischee des „trockenen Deutschen“ angeht: Faszinierend, wie der türkischstämmige Schriftsteller das Deutsche rhythmisiert und zum Klingen, ja: zum Tanzen bringt. Klar, die türkischen Wurzeln, das Orientalische im Blut, das wilde Herz… – könnte man meinen. Erwischt, noch ein blödes Klischee, stimmt nämlich ganz und gar nicht: Feridun Zaimoglu hat diese Art, das Deutsche mit Leben zu füllen, keineswegs irgendwie von seinen Ahnen aus der Türkei mitgeliefert bekommen, sondern als Jugendlicher in einer Bibliothek entdeckt, in Texten der Romantik, in der Luther-Bibel, bei den Gebrüdern Grimm. Der Bibliothekarin, die ihn drauf gebracht hat, kann man jedenfalls nicht dankbar genug sein…
Und was ist jetzt Deutsch? Tja. Keine Antwort. Keine klare zumindest. Alles mögliche. Also: Eine Sprache, in der wahrscheinlich alles möglich ist. Wenn man das so will – und wenn man es kann. Feridun Zaimoglu verfügt über ein Ausnahmetalent, er ist ein Vorläufer, aber letztlich ist er eigentlich nur einer von vielen:
Mit der Globalisierung und der Migration kam und kommt deutsche Literatur auch von SchriftstellerInnen, deren Vorfahren von andernorts stammen – und damit entstehen natürlich ganz neue Geschichten, Themen, Schreibweisen, die das, was Deutsch ist, mit prägen und verändern. Die die eh schon reichhaltige und vielfältige deutsche Gegenwartsliteratur ergänzen und nochmal bereichern. Interessant zu beobachten ist dabei insbesondere auch, wie diese AutorInnen mit der deutschen Sprache umgehen: Manche spielen mit ihr auf ungekannte Weise, manche ergänzen sie um neue Wendungen – und manche sind ganz besonders korrekt und genau, weil sie die Sprache erst spät erlernt haben und deshalb jedes Wort abwägen müssen beim Schreiben, um keine dummen Fehler zu machen. Es gab schon immer eine weltoffene Richtung in der deutschen Geistesgeschichte, zumindest bis zur Machtergreifung der Nazis – jetzt kommt aber natürlich eine ganz neue Dimension von Welthaltigkeit. Solange die geistigen Grenzen nicht geschlossen werden, zumindest.
„Was ist Deutsch?“ – so hieß übrigens eine Reihe von Essays, die der Philosoph Theodor W. Adorno in den 1960er Jahren im Radio publizierte. Kann man nach der NS-Zeit, nach dem Weltkrieg und vor allem nach dem Holocaust überhaupt noch schreiben, das war die Frage, um die dann eine im Prinzip jahrzehntelang anhaltende Diskussion entbrannte. Aus der Philosophie und aus der Literatur wurde so eine Debatte in die Gesellschaft getragen, die einen ganz wesentlichen Teil dazu beitrug, dass so etwas wie die (bundes)deutsche Erinnerungskultur entstand, die heute für den einen oder anderen anscheinend wieder in Frage steht. Diese Art, sich der Vergangenheit zu stellen, mit der Banalität des Bösen umzugehen – sie war letztlich die Grundlage dafür, dass Deutschland zu dem Land werden konnte, das es heute ist: Eine liberale, weltoffene, demokratische Gesellschaft, die Anziehungskraft weltweit ausübt. Und die sogar nicht bloß geschätzt, sondern gemocht wird. Wer hätte das vor 20, 30 Jahren gedacht?
Was also ist Deutsch? In Zeiten, in denen der Antisemitismus wieder grassiert, wäre ein zentraler Aspekt einer möglichen Antwort insofern auch: Die dunkle Seite des Deutschen, die NS-Gräuel und vor allem den Holocaust nicht zu relativieren. Zur Geschichte stehen, zu diesem spezifisch deutschen Versagen – immer wach bleiben – und froh darüber sein, was man aus dem Desaster zu machen geschafft hat.