“Zur Ästhetik des Kriminalromans” – ein Gastbeitrag von Thomas Wörtche

https://blog.wdr.de/nollerliest/zur-aesthetik-des-kriminalromans-ein-gastbeitrag-von-thomas-woertche/

“Zur Ästhetik des Kriminalromans” – ein Gastbeitrag von Thomas Wörtche

Kommentare zum Artikel: 0

“Zur Ästhetik des Kriminalromans”, so der Titel einer Tagung, die am ersten Oktoberwochenende im Rahmen des Krimifestivals “Mord am Hellweg” stattfand; organisiert vom Literaturwissenschaftler und Publizisten Thomas Wörtche und dem Schriftsteller Oliver Bottini. Dutzende Schreibende, Forschende, Publizierende aus aller Herren Länder diskutierten darüber, was einen “guten” Krimi ausmacht, wie der Stand der Dinge ist im Krimigenre  – und wie wohl die Zukunft aussehen könnte. Hier dokumentiere ich mit freundlicher Genehmigung von Thomas Wörtche seine Key Note zur Konferenz – ein Redeskript, das man auch als roten Faden lesen kann “zur Ästhetik des Kriminalromans” …

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Erfolg des Genres „Kriminalliteratur“ hat den Begriff „Krimi“ unter erheblichen Stress gesetzt. Gegen den Sprachgebrauch, der die Rede von „Krimi“ nun einmal ist, kommt man nicht mit Normierungsversuchen und Definitionen an. Positiv gesehen meint „Krimi“ ein inzwischen fast unendlich ausdifferenziertes Gebilde resp. Genre, das für jeden „Lesegeschmack“ etwas bietet – das gilt auch für die medialen Segmente des Genres.

Aber diese riesige Masse von Texten unter dem Begriffsdach „Krimi“ erdrückt zunehmend die einzelnen Texte. Er gaukelt vor, dass „Krimi“ per se und grundsätzlich etwas sei, das immer noch, wie früher, als man für die Emanzipation des Begriffs gekämpft hat, gemeinsame Merkmale aufweise, die sich nicht nur lediglich auf der höchsten Abstraktionseben darstellen lassen. Mit der zunehmenden Quantität geht zunehmend Prestige, und wie oft kritisiert wird, Qualität verloren. „Ich lese keine Krimis“ oder „ich halte Genreliteratur grundsätzlich für unrezensierbar“ (Sigrid Löffler) sind Aussagen, über die man sich nicht nur mokieren kann (kann man, auch, klar), sondern eben auch Aussagen, die nachdenklich stimmen – weil sie einen wahren Kern haben.

Wir möchten auf dieser Tagung nicht, wie üblich geworden, nur „den Markt“ dafür verantwortlich machen (obwohl er natürlich ein mächtiger Faktor ist), und uns auch nicht auf einen vermuteten „Publikumsgeschmack“ zurückziehen – der einem passen kann oder auch nicht. Zumal das Anführen von „Geschmack“ das Ende jedes Diskurses bedeutet, denn wer wollte schon den Geschmack anderer Menschen nicht respektieren?

Bleibt aber das Problem: Krimi ist zu einem Label geworden, das in vielen und immer mehr Fällen seinen Gegenstandsbereich nicht mehr abdeckt. Oder ihn so hermetisch abdeckt, dass viele innovative Texte unsichtbar bleiben müssen. Dann werden sie schlimmstenfalls von Krimi-Fans abgelehnt (= ist doch kein Krimi) und von den Krimi-Ignorant:innen des allgemeinen Lesepublikums übersehen (= ist doch bloß ein Krimi). Nur mit Marktmechanismen ist das nicht befriedigend zu erklären.

Also müssen wir eine Schicht tiefer graben – und deswegen: „Zur Ästhetik der Kriminalliteratur“, strikt auf ihre Machart als Texte bezogen.

Dass im Jahr 2022 viele Kriminalromane (Thriller etc.) lediglich zeitgeistige oder tagesaktuelle Themen aufgreifen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie als Texte strukturanalog gebaut und inszeniert sind wie ihre Pendants aus den 60er, 70er und 80er Jahren. Das kann man als Resilienz eines literaturevolutionären Erfolgsmodells verstehen. Oder auch als Versteinerung. (Ohne Frage bringen diese traditionellen Techniken immer noch großartige Bücher hervor, was aber am grundsätzlichen Problem nichts ändert). Es nagt der Zweifel: Auch wenn diese Modelle prächtig funktionieren, wie lange wollen und können sie das noch tun? Gerade wenn ihre schwächeren Exemplare zunehmend, und seien sie noch erfolgreich, für das Genre kontraproduktiv sind, so wie der Benziner für die Autoindustrie. Also eine Art Innovationsblocker? Wie ja überhaupt der letzte Innovationsschub in den späten 70ern bis frühen 90ern des letzten Jahrhunderts stattgefunden hat – wie gesagt, das gilt nicht für Themen oder das schreibende Personal, Stichwort Diversität.

Oder aber: wie, wenn „Innovation“ kein gravierendes Kriterium wäre und somit weit überschätzt, Kriminalliteratur resp. Krimi – geistesgeschichtlich bemerkenswert genug – fest auf tradierten, inzwischen weit über hundertjährigen Beinen stehen könnte, und damit potentiell zu den „großen Erzählungen“ gehört – die Narratologen unter uns werden vermutlich auf diesen Punkt zu sprechen kommen.

Aber wenn das so wäre – würde sich das auch für globale Verhältnisse beschreiben lassen? Kriminalliteratur konnte man noch nie nationalliterarisch verstehen – eine spezifisch „deutsche“ KL ist eine Fiktion. Zu groß die Einflüsse – aus dem Angelsächsischen, aus dem Französischen, zunehmend aus dem Nordischen und mediterranen Raum. Wobei auch diese Gegenden keine „autochthonen“ Strukturen hervorgebracht haben, sondern ihrerseits Amalgame sind. Mit (Wirk-)Macht tritt zunehmend Asien auf, Korea, China, Japan. Spätestens an dem Punkt wird es mit „der großen Erzählung“ schwierig – außer sie lässt sich auf die Formel bringen: Die Welt ist ein gigantischer krimineller Ort und das probate Mittel zur künstlerischen Reflexion dessen ist die Kriminalliteratur. Das wäre ein megalomaner Gedanke, denn damit erklärt man alle gewaltreflektierende Kunst zur Crime Fiction: Oper, Malerei oder Tanz eingeschlossen. Kann man natürlich machen – aber die epistemologischen Anschlussprobleme wären riesig – ein Hypersuperparadigma für den Planeten, tatsächlich universell. Mon dieu.

Aber – auch das müssen wir diskutieren – wollten wir das überhaupt? Überfrachten und überwölben wir den armen Krimi damit nicht völlig unnützerweise? Will er doch nur „unterhalten“, wie viele Leute, Produzent:innen und Leser:innen gleichermaßen, sagen und denken: „Ich will ja nur gut unterhalten werden“. Der alte Slogan, ein Kriminalroman dürfe alles, nur nicht langweilen, zielt auch in diese Richtung, wiewohl er völlig richtig ist. Abgesehen davon, dass es für mich immer noch befremdlich ist, wenn man sich mit Leichenteilen und elenden Verhältnisse einfach nett „unterhalten“ will (Unterhaltung hier als „Zeitvertreib“, als „musing“ verstanden) – über das Vergnügen an tragischen Gegenständen haben schon berufenere Geister nachgedacht. Aber auch richtig ist: Unterhaltung ohne Haltung – gegenüber der Welt, den Menschen usw. – ist ideologisch, cf. UFA-Filme des III. Reichs etc. – , aber Haltung manifestiert sich nicht nur in dem 1:1 Gesagten, sondern eben auch in den Modi der Darstellung. Wenn man „unterhaltsame“ Romane über Serialkiller oder Kinderschänder schreibt, die lediglich empört behaupten, dass Kinderschänder oder Serialkiller abscheuliche Menschen sind, aber ansonsten serialkillen oder kinderschänden als amüsante Unterhaltung inszenieren, dann kann ich keine „Haltung“ sehen – dann sind in dieser Logik die widerwärtigen Dinge nur auf der Welt, um uns zu bespaßen. (Und um Missverständnisse nicht erst aufkommen zu lassen: Natürlich kann es grandiose komische Romane dieser Machart geben, wegen der ästhetischen und erkenntnistheoretischen Kraft der Vis Comica, aber das gehört hier eigentlich nicht her). Dennoch – Krimi ist nun einmal als „Unterhaltung“ gelabelt, literaturhistorische Fakten kann man nicht zurückdrehen, und ausgerechnet dieser Faktor ist es, der anderen Ansätzen das Leben schwer macht. Und wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus, ohne „Unterhaltung“ zu suspendieren, was ja niemand will – denn auch bei Kafka und Joyce kann man sich blendend „unterhalten“?

An dieser Stelle spätestens, wenn es nicht nur um Präferenzen und Ökonomien gehen soll, müsste sich die Literaturwissenschaft einschalten, sofern sie für eine gewisse Objektivität stehen möchte. Deswegen haben wir auch Vertreter:innen dieser Zunft eingeladen. Denn auf dem literarischen Feld ist die Literaturwissenschaft neben den Autor:innen, den Leser:innen und der Kritik ein wesentlicher Player. Umso erstaunlicher, dass die Gesprächsbereitschaft innerhalb dieses Quartetts, sagen wir: nicht gerade lebhaft ist. In den letzten Jahren gibt es immerhin eine gewisse Lockerung zwischen Literaturwissenschaft und professioneller Kritik – vermutlich, weil beide Seiten aus jeweils eigenen Gründen gegenseitigen Support brauchen, aber das sind Einzelfälle, die von individuellen Initiativen ausgehen und noch lange nicht institutionalisiert sind. Und das ist schade. Ob ein Dialog zwischen Lesepublikum und Wissenschaft überhaupt gewollt ist – von beiden Seiten -, weiß ich nicht, und die Skepsis von Autor:innen gegenüber einer Disziplin, die sie so richtig erst lieb hat, wenn sie tot sind, ist notorisch und plausibel. Kriminalliteratur braucht keine Theorie, hatte Jochen Vogt einmal (ironisch?) geketzert. Ich glaube, impulsive Antworten wären an dieser Stelle nicht sehr produktiv. Aber die Frage, was die Literaturwissenschaft für die Kriminalliteratur tun könnte und umgekehrt, interessiert uns schon. Könnten etwa Narratologen hilfreich sein? Oder wäre Kriminalliteratur für z.B. Narratologen ein dankbares Forschungsfeld? Oder betrachtet die Literaturwissenschaft die Kriminalliteratur klammheimlich immer noch als Experimentierfeld für Lesersoziologie, auch wenn man das inzwischen eleganter formulierter kann?

All das, unsere gesamte Tagung, hängt natürlich davon ab, ob sich die beteiligten Parteien wirklich für sich gegenseitig interessieren, oder ob ein Jedes auf seinem eigenen kleinen Terrain vor sich hin pütschern will. Das wäre dann eine Parallelaktion zur zunehmenden Fraktalisierung unserer Gesellschaft, wenn auch in a nutshell. Das wollen wir ganz und gar nicht. Deswegen wünschen wir uns jetzt einfach eine produktive, durchaus unterhaltsame und gehaltvolle Tagung. Vielen Dank.

© 09/2022 Thomas Wörtche

Einen Kommentar schicken

Die mit * gekennzeichneten Felder müssen ausgefüllt werden.

Top