Wenn es um Menschliches, allzu Menschliches geht, hört man bisweilen den wohlmeinenden Satz: „Man muss etwas loslassen, um es zu gewinnen.“ Seit Montagabend will mir dieser Gedanke nicht mehr aus dem Kopf. Da steht Hendrik Wüst, der Ministerpräsident, in der Parteizentrale der CDU von Nordrhein-Westfalen und verkündet wortreich und nicht ohne Pomp, dass er nicht Kanzlerkandidat der Union werden wolle, stattdessen seine Unterstützung Friedrich Merz gelte.
Manchmal hilft es, das Offensichtliche auszusprechen. Dass Merz die Union in den Bundestagswahlkampf führen wird, war Parteiinsidern seit Monaten klar. Niemand wartet Jahre auf seine zweite Chance, nimmt drei Anläufe auf den Parteivorsitz, um dann kurz vor dem entscheidenden Moment zurückzuziehen. Offen war nur, ob es mit Getöse aus Bayern ablaufen würde oder ohne. Hendrik Wüst hat aber mit seiner Erklärung am Montagabend, nicht ganz ungeschickt, aus der für ihn eigentlich hoffnungslosen Lage noch maximales politisches Kapital geschlagen.
„Der Hendrik ist die Zukunft der Partei“
Er erwähnte den Zuspruch, den er erfahren habe, aus der Partei, aus der Wirtschaft und, hört, hört, von jungen Menschen. Die Botschaft saß. Ein führender Christdemokrat aus NRW hat es auf den Punkt gebracht: „Der Hendrik ist die Zukunft der Partei.“ Wüst ist noch keine 50 und hat alle Chancen, sich in den kommenden Jahren zum Kronprinzen in der Union zu machen.
Doch zunächst warten jetzt die Mühen der Ebenen. Die Zeit, dass Hauptstadtjournalisten in eine Dienstreise ins Rheinische investieren, um Wüst aus nächster Nähe zu beobachten, dürfte erst einmal vorüber sein. Und je nach Ausgang der Bundestagswahl kann das Regieren in Düsseldorf schwieriger werden, wenn die Herrschenden in Berlin derselben Partei angehören. Es muss schon alles zusammenpassen, damit die Union in Bund und Land erfolgreich im Gleichklang marschiert. Als einstigem Generalsekretär von Jürgen Rüttgers dürfte Wüst dieses Risiko bewusst sein.
Als langjähriger Landespolitiker weiß Wüst aber auch: Ein souverän agierender Ministerpräsident ist weithin so sichtbar wie ein Leuchtturm auf der Klippe. Eigentlich nimmt man aus der Ferne kaum etwas anderes wahr. Die SPD arbeitet sich bereits jetzt am „Insta-Präsidenten“ ab und zielt damit auf die Vorliebe des Münsterländers, die sogenannten sozialen Medien mit vorteilhaften Bildern von sich zu fluten. Das muss einem nicht gefallen, man kann es für einen Substanzverlust von Politik halten. Oder aber für zeitgemäße Imagepflege in einer Welt, die für Verpackung mehr Sinn zu haben scheint als für Inhalte.
Vorerst-nicht-mehr-Kanzler-Anwärter
Doch inzwischen wird deutlich, dass viele Menschen in Deutschland mit den Ergebnissen der Politik unzufrieden sind. Es ist Selbstbetrug, wie die Ampel stellenweise versucht, das mit angeblich schlechter Kommunikation zu erklären. Ob allerdings Wüsts schwarz-grünes Migrationspaket wirklich Abhilfe schafft, ist ungewiss, erst einmal ist es nur bedrucktes Papier. Der Praxistest steht noch aus.
Die Herausforderungen für den Vorerst-nicht-mehr-Kanzler-Anwärter Wüst werden kommen, zum Teil sind sie schon da. Aber vielleicht hilft ihm ein weiteres Mal seine Fähigkeit, sich neu zu erfinden.
Dieser Text erscheint auch als Editorial in unserem landespolitischen Newsletter “Politik für 18 Millionen”. Jeden Freitag verschicken wir die Themen, die NRW bewegen – an politisch Interessierte, Aktive, Gewählte, und Politik-Nerds. Hier können Sie den Newsletter kostenlos abonnieren.
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Wüst klebt in Koalition mit Grünen und das hat heute nicht mehr viel Rückhalt bei CDU/CSU und deren Wählern.