„Leere Herzen“ von Juli Zeh – „Qualityland“ von Marc-Uwe Kling – und (nochmals) „Die Lieferantin“ von Zoë Beck.
Science Fiction – Zukunftsmusik? Auf eine Weise ging´s früher, als das Genre noch relevanter und gefragter war, in diesen Geschichten weniger um das Morgen denn um das Heute, da waren sich die meisten Leser einig: Verhandelt werden vor allem Ideen, Wünsche, Vorstellungen der Gegenwart; die Zukunft, in der noch alles möglich scheint, dient als Projektionsfläche.
Etwas weniger im Film, deutlicher in der Literatur – ist der Science Fiction vor ein paar Jahren die Puste ausgegangen, die Zukunftsmusik ist im Nichts des Raums verhallt, nur wenige Ausnahmen bestätigen diese Regel. Dann zumindest, wenn man nicht in Nischen, sondern mitten auf den Markt, auf den Mainstream schaut.
Mehr oder minder dystopisch: Aktuelle Nah-Zukunftserfahrungen
Um so erstaunlicher, dass es in den letzten zwei, drei Jahren auch da doch wieder eine Art Revival, eine kleine Blüte von Zukunftsgeschichten gibt, die mittlerweile sogar in den Bestsellerlisten angekommen sind: Storys und Settings, die in der unmittelbaren Zukunft angesiedelt sind, bloß ein paar wenige Jahre nach vorne gedacht.
Keine „richtige“ Science Fiction also, aber doch Geschichten, in denen die Gegenwart kritisch gespiegelt wird, indem man ihre Folgen in der unmittelbaren Zukunft abschätzt; das Ganze geprägt von den großen Umbrüchen der Zeit: Zerfall staatlicher Strukturen, Globalisierung, Digitalisierung, Umweltzerstörung, Populismus.
Zwei Szenarien sind es, die dabei immer wieder aufgezogen werden: Entweder es wird eine dystopische Welt gezeichnet, in der alle Ordnung untergegangen ist – und die Menschen die Conditio humana, die Bedingungen ihres Menschseins, grundlegend neu verhandeln müssen. Inspirationsquelle hierfür sind sicher auch Fernsehserien wie „The Walking Dead“.
Oder die Zukunft wird ohne Zusammenbruch gedacht, linear nach vorne sozusagen – aber mit Konsequenzen, die sich aus den Brüchen und Entwicklungen der Gegenwart hinzu addiert haben, ein Sieg der Populisten beispielsweise oder die Komplettprägung allen Lebens durch Digitalisierung und Überwachung.
Was davon tatsächlich kommen könnte, ist im Prinzip nicht relevant, denn es geht, wie gesagt, letztlich bei alledem nicht um die zukünftige Existenz des Menschen – sondern um´s Leben jetzt. Was, eben angesichts der vielen Umbrüche in der Gegenwart, interessant genug ist.
Juli Zeh: Leere Herzen (Luchterhand, 20 Euro)
Zum Beispiel „Leere Herzen“, neuester Roman von Juli Zeh, in dem sie mit einer ziemlich gewitzten Idee in Sachen Digitalisierung aufwartet: Britta Söldner, Heilpraktikerin, und ihr Kumpel Babak Hamwi, Informatiker, fischen mit Hilfe eines Algorithmus potentielle Selbstmörder aus der Masse und unterziehen sie in ihrem Startup einem zwölfstufigen Therapieprogramm. Wer die letzte Stufe überwunden und seine Todessehnsucht noch immer nicht vergessen hat, der wird an zahlungskräftiger Interessenten vermittelt, denn an Selbstmordattentätern besteht auch Mitte der 2020er Jahre noch ein gewisser Bedarf – in einem reorgansierten, sauber geordneten Deutschland, dessen populistische Regierung die Demokratie Schritt für Schritt durch Effizienzprogramme ersetzt.
Spannend wird’s, als die gut geölte Maschinerie ins Stottern kommt und die findigen Unternehmer sich plötzlich selbst mittendrin finden in den politischen Prozessen ihrer Zeit. Genau da gerinnt allerdings auch der Roman nach vielversprechendem Beginn zur Enttäuschung: Der Grund, warum einige delinquente Selbstmordkandidaten querschießen und damit die wohl geordneten Verhältnisse torpedieren – sie wollen Angela Merkel als Kanzlerin reinstallieren – ist denn doch eher müder Kalauer als treffende Pointe. Und die Geschichte versandet, irgdnwie – leider. Die unverzichtbare Angela, klar, aber braucht´s für diese Einsicht einen ganzen Roman? Der übrigens in Teilen auch sprachlich recht bemüht und klischeelastig daher kommt … Insofern: Gegenwartsfaktor hoch, Erkenntnisgewinn niedrig.
Marc-Uwe Kling: Qualityland (Ullstein, 18 Euro)
Zweiter Bestseller mit einem Touch von Science Fiction: „Qualityland“ von Marc-Uwe Kling. Auch hier befinden wir uns in einer Zukunft, die noch deutlicher von der Digitalisierung gekennzeichnet ist, die Menschen sind permanent vernetzt, die Algorithmen fungieren als ständige Lebensbegleiter, das Leben steht gewissermaßen komplett unter ihrer Fuchtel, und ein „Draußen“ ist kaum möglich, das System bekommt alles mit; sogar Wünsche, die man selbst noch gar nicht kennt, werden schon direkt von kleinen Drohnen geliefert. Beispielsweise: Ein lilafarbener Delfinvibrator. Den bekommt ein Mann namens Peter Arbeitsloser geschickt, der kleine Held dieser Geschichte, warum auch immer. Tja, was tun? Peter kann mit der Lieferung nichts anfangen, beim besten Willen nicht, und er möchte es zurückgeben. Das ist allerdings viel leichter gedacht als getan. Und so nehmen die Dinge ihren Lauf…
Marc-Uwe Kling, geboren 1982, Liedermacher und Kabarettist, ist der Mann, dessen Radiokolumnen als „Känguruh-Trilogie“ in Buchform zu Bestsellern wurden. In Sachen absurden und schrägen Humors steht sein Romandebüt „Qualityland“ dem in Nichts nach. Mit großer Lust findet er in der schönen neuen Digital-Welt, die er in seinem Roman mit deutlicher Anbindung an die Gegenwart zeichnet, an allen Ecken und Enden Anschlussmöglichkeiten für mal bissige, mal feine, mal plakative Pointen. Und genau das ist es, was seine Zukunft der Gegenwart von den meisten alternativen Entwürfen unterscheidet: dass er zwar besorgt und kritisch und durchaus auch analytisch nach vorne schaut, aber eben nicht so bierernst, depressiv und apokalyptisch wie das in anderen Versuchen der Fall ist. Mit einem gewissen Galgenhumor.
Und mit einem Blick für den digitalen Trash, für die Dinge, die nicht so laufen, wie die Logik der Algorithmen es vorgesehen hat. Ein Beispiel: Einige künstliche Intelligenzen bzw. Roboter mit psychischen Problemen; Peter, der sein Geld als KI- und Maschinen-Verschrotter verdient, hat´s nicht übers Herz gebracht, ihre Existenz zu beenden, heimlich leben sie in einem Keller seines Hauses weiter, schauen den ganzen Tag fern, weil ja sonst nichts zu tun ist. Denn, klar, irgendwann werden sie natürlich noch gebraucht, und es ist nicht zu viel verraten, wenn man mutmaßt, dass das mit einem unverlangt eingesandten Delfindildo zu tun haben könnte…
Zoë Beck: Die Lieferantin (Suhrkamp, 14,95 Euro)
Wer sich weder für die eine noch für die andere dieser beiden Nah- Zukunftsvisionen entscheiden mag, dem sei (nochmals) „Die Lieferantin“ von Zoë Beck empfohlen – für mich persönlich der überzeugendste Roman mit Zukunftsdrall aus diesem endenden Jahr; überhaupt: ein Krimi des Jahres. Deshalb hier schnell nochmal (minimal überarbeitet) die „Noller liest“-Empfehlung aus dem Juli:
Die Story ist in einer nicht allzuweit entfernten Zukunft in London angesiedelt – der Brexit ist vollzogen, radikal Konservative sind an der Macht, die Wirtschaft liegt am Boden, rechte Schläger ziehen durch die Straßen, der Rassismus ist wieder hoffähig geworden. Die Regierung plant den „Druxit“, eine „zero tolerance“-Drogengesetzgebung, eine Initiative hält dagegen, ein Volksentscheid steht an.
In dieser Gemengelage revolutionieren Unbekannte den Drogenhandel, indem sie ihren Stoff mit Drohnen ausliefern – was die Herren aus dem organisierten Verbrechen, die in dem Metier bislang das Sagen hatten, natürlich nicht auf sich sitzen lassen können. Und so entwickelt sich auch in punkto Drogenhandel ein Existenzkampf ganz neuer gegen ganz alte „Wirtschaftsweisen“ – mit offenen Grenzen zwischen Politik, Verbrechen und Ökonomie…
So funktioniert zeitgenössische Spannungsliteratur: „Die Lieferantin“ ist eine Analyse der Zeit, aber Zoë Beck resümiert nicht bloß, sie spinnt die gesellschaftlich-politischen Gegebenheiten weiter, und sie denkt dabei auch „um die Ecke“, das Ganze blendend inszeniert und umgesetzt. Das Ergebnis: Ein Gangsterroman 4.0, bei dem Analyse, Meinung und Unterhaltung nahezu perfekt verzahnt sind.
Noch Fragen? Ja, auf jeden Fall: Hier geht’s zum ausführlichen Interview mit Zoë Beck …
2 Kommentare
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Habe zwei der drei o.g. Romane gelesen. Sie entwickeln einen gewissen Spannungsbogen oder, mit anderen Worten, es geschieht eine Entwicklung, doch war mir der politische Ansatz zu offensichtlich, so dass ich sie schon unter den Charakter politischer Literatur einordnen würde.
Kein Widerspruch meinerseits! 🙂 “Die Lieferantin” würde ich als politischen Spannungsroman betrachten, “Leere Herzen” als politischen Roman mit Spannungselementen und “Qualityland” als politischen Unterhaltungsroman..